6 Begegnung
Um Himmels Willen, war ich etwa in der Sauna vergessen worden? Ich spürte, wie mit der Schweiß im Nacken und an den Beinen klebte und die stickige heiße Luft machte mir das Atmen schwer. Gewaltsam öffnete ich meine schweren Augenlider.
Nein, keine Sauna. Nur mein Zelt. In der prallen Südsonne, die durch das Zeltdach sichtbar im Zenit stand und vermutlich alle Würstchen grillte, die außerhalb des Kühlschranks gelagert wurden. Und mich.
Mühsam kämpfte ich mich hoch und krabbelte durchs Zelt, um erstmal sämtliche Reißverschlüsse aufzuziehen. Sofort wehte ein sanftes Meereslüftchen durch die Fliegennetze und trocknete mich im Nu wieder.
Halleluja, wessen Idee war das nochmal gewesen, dieses Zelt in dunkelblau zu kaufen? Ach ja, meine!
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich noch immer die Klamotten von gestern Abend trug. So langsam dämmerte es mir, was ich angestellt hatte... böööööööööser Whisky!
Mit einem Blick in den Handspiegel stellte ich fest, dass Wimperntusche und Kajal den klassischen Hangover-Pandabären aus mir gemacht hatten. Also erstmal runter damit, Haare kämmen und zu einem Dutt binden und frische Sachen anziehen. Mit Top und Shorts fühlte ich mich nun deutlich wohler und kroch endlich aus meinem Zelt heraus.
Stella saß schon draußen, in der einen Hand ihre Lieblingskaffeetasse, die Dave ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, in der anderen Hand ihr Buch, an dem nun die Leselampe fehlte. Sie trug noch ihren geblümten Seidenpyjama, der aus Trägertop und Spitzenshorts bestand, und sah darin echt süß aus.
Am meisten interessierte ich mich aber für die Wasserflasche, die neben Stella auf dem Tisch stand und frisch aus der Kühlbox gekommen sein musste, da sie von außen beschlagen und tropfend nass war.
"Darf ich mal?", knurrte ich und griff danach. Erst trank ich ein paar Schlucke, dann leerte ich den Rest über meinem Kopf aus. Oh ja, das machte wach! Stella lachte sich halb tot und verschüttete dabei ein paar Tropfen Kaffee. Bis sie sich wieder beruhigte hatte, hatte ich mich ebenfalls in einen Gartenstuhl plumpsen lassen und nahm Stella den halbvollen Kaffeebecher aus der Hand. "Als Entschädigung", unterbrach ich ihren immernoch kichernden Protest.
"Wo ist Dave?", erkundigte ich mich. Ich hatte ihn noch gar nicht gesehen und wegen gestern Abend eigentlich mit einer mittelschweren Katastrophe gerechnet.
"Brötchen holen", erwiderte Stella. "Er hat gestern Abend schon geschlafen." Das erklärte Einiges.
"Du hast ihm nichts gesagt?" Freudig überrascht nippte ich am lauwarmen Kaffee. Da fehlte der Zucker.
Stella schüttelte den Kopf und legte das Buch zur Seite. "Mh mh. Aber eins musst du mir verraten, Schatz. Whisky? Du trinkst doch nie solche Sachen."
Ich hob einen Finger. "Es war ein Whiskymix", klärte ich sie auf. "Ein ziemlich guter. Musst du auch mal probieren."
"Franka, was ist wirklich los? Irgendwas hat dich durcheinandergebracht. Sonst würdest du nicht alleine am Strand so trinken, dass dich ein verdammt hübscher Kerl nach Hause tragen muss. Ernsthaft, wenn ich Dave nicht so lieben würde..." Ich grinste nur und starrte in die Kaffeetasse.
Ich kam wohl nicht drumherum, ihr von Dion zu erzählen. Also berichtete ich, wie wir uns gestern auf der Terrasse getroffen und miteinander gesprochen haben. Den eigentlichen Grund für meinen Drang nach frischer Luft ließ ich allerdings aus.
"Er hat dich im Gesicht berührt?", quietschte Stella eine Spur zu laut. "Wie genau?" Ihre Detailversessenheit bei sowas würde mich irgendwann noch in den Wahnsinn treiben.
"So." Ich streckte meine Hand aus und versuchte möglichst genau Dions Berührung an Stellas Lippen nachzuvollziehen.
"Mein Gott", hauchte sie atemlos. "Kein Wunder, dass du so durcheinander warst. Wie fandest du es? Und was hast du jetzt vor?"
Ich hob die Schultern. "Es fühlte sich besonders an, irgendwie magisch. Als sei ich die einzige Frau auf der Welt, die er jemals so anfassen würde. Das hat mich neugierig gemacht, weißt du?"
Stella nickte. "Du möchtest wissen, wer du für ihn bist und ob er noch mehr machen würde. Du findest ihn richtig heiß", schlussfolgerte sie.
"Irgendwie schon", bestätigte ich und leerte den Kaffee. "Aber ich weiß ja nicht, weswegen er hier war und ob ich ihn nochmal sehen werde."
Stella wedelte mit ihrem Zeigefinger hin und her. "Nicht so negativ! Wenn es für ihn auch so schön war wie für dich, dann kommt er auch wieder." Ihre Zuversicht in das Schicksal hätte ich manchmal gerne. "Und wenn es dann soweit ist", Stella lehnte sich auf den Tisch, "dann geh drauf ein. Genieße es! Du bist eine wunderschöne Frau und hast es verdient, als solche behandelt und wertgeschätzt zu werden."
"Was ist mit meinem Bruder?", erinnerte ich sie, doch sie winkte sofort ab. "Um den kümmere ich mich", kommentierte sie.
Ein paar Sekunden später flogen eine große Brötchentüte und ein Werbeflyer mit einem lauten Platsch auf den Tisch. Während ich erschrocken quietschte, wurde Stella mit einem Kuss begrüßt. "Schaut euch das mal an", forderte Dave uns auf und verschwand im großen Zelt, um Brotaufstrich und Geschirr herauszubringen.
Gespannt und neugierig griffen Stella und ich gleichzeitig nach dem glänzenden Werbedruck, aber ich gewann das Duell. "Selbst mit Kater bist du schneller", grummelte sie gespielt frustriert. Während sie sich noch bemitleidete, studierte ich bereits den Flyer... und wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
"Eine Dinnerparty unter dem Motto Die romantischen Nächte Italiens", las ich vor. "Dave, bist du bescheuert?", rief ich ins Zelt hinein. "Das ist was für euch beide. Was soll ich mich als Single da rumtreiben?"
"Ach, komm schon!" Stella schnappte mir den Flyer aus der Hand. "Das wird bestimmt toll. Romantische Beleuchtung, ein Meer aus Blumen, gute Musik und leckeres Essen. Alles am großen Pool und gleich heute Abend." Hastig warf sie einen Blick ins Zelt, wo Dave immernoch alles für unser Frühstück zusammenkramte, und beugte sich vor zu mir.
"Was ist, wenn Dion auch dort ist?", flüsterte sie mir zu. Verdammt, damit hatte sie mich. Verzweifelt strich ich mir mit einer Hand übers Gesicht und erhob mich, um Packesel für Dave zu spielen.
"Na gut", gab ich nach. "Aber dafür leihst du mir heute Abend deinen Lippenstift aus."
"Der war irre teuer!"
"Ohne den Lippenstift, ohne mich!" Ich grinste frech und bewahrte gerade noch rechtzeitig meinen armen Bruder davor, alles fallenzulassen.
Nach dem Frühstück beschloss ich, mir eine ausgiebige Dusche zu gönnen. Der Abend gestern und auch die Nacht klebten im wahrsten Sinne des Wortes an mir und damit wollte ich nun nicht unbedingt den ganzen Tag herumlaufen. Ich packte Wechselkleidung, ein großes Handtuch sowie Duschutensilien in eine kleine Sporttasche und flipflopte dann in Richtung Badehaus.
Auf dem Weg dahin sah ich mich in den anderen Campingplatzgassen ein bisschen um. Jetzt in der Hochsaison war jeder Platz belegt, es herrschte ein Kommen und Gehen von Zelten und Wohnmobilen. Wo morgens Urlauber den Platz verlassen hatten, prangte nun ein Abdruck in Form von gelbem, vertrocknetem Rasen. Da würde heute Nachmittag notdürftig drumherumgemäht werden, um den Platz für die nächsten Anreisenden freizugeben.
Weiter hinten erspähte ich die großen, sehr gepflegten Mobilheime, die mit ihren privaten Minigärten und üppigen Bepflanzungen schon fast mit einer Ferienwohnung vergleichbar waren. Die eingebaute Wohnküche und fest installierten Betten mit Lattenrost und Matratze ermöglichte Urlaubern mit größerem Geldbeutel einen bequemen Aufenthalt. Auch die Mobilheime waren derzeit vollständig ausgebucht.
Am Badehaus angekommen schloss ich mich direkt in einer der großzügigen Duschkabinen ein und genoss das erfrischende, lauwarme Wasser, das aus dem völlig überdimensionierten Duschkopf auf meinen Rücken prasselte. Neben mir schien es eine andere Dame sehr gut mit der Wassertemperatur zu meinen, denn dicke Nebelschwaden zogen unter dem Türspalt her. Wie konnte jemand bei dem Wetter auch noch kochend heiß duschen?
Ich nahm mir Zeit und genoss den Moment von duftendem Schaum und beruhigend rauschendem Wasser, ehe ich in meinem Strandkleid und mit der Tasche über der Schulter die Duschkabine wieder verließ. Vorne an den Waschbecken, wo auch die fest angebrachten Haartrockner zu finden waren, machte sich gerade die Dame zurecht, die neben mir offensichtlich ihre Haut verbrühen wollte.
Fluchend hantierte sie mit einem Glätteisen an ihren langen schwarzen Haaren herum. Im Spiegel erblickte ich ein eigentlich hübsches, aber unter Creme und Puder verstecktes Gesicht, welches mit auffallend künstlichen Wimpern komplettiert wurde. Die offensichtlich ewig andauernde Schminkeskapade hatte deutliche Spuren hinterlassen: vor der Dame türmten sich in riesigen Massen Kosmetiktücher, Wattepads und Wattestäbchen auf, die kaum die Flecken von Wimperntusche und anderen Pudern im Waschbecken verdeckten.
Gerade schien sie ihre Hitzefolter für die Haare beendet zu haben. Unter weiteren Schimpftiraden riss sie angenervt den Stecker aus der Dose und wickelte das Kabel um das Gerät. In dem Moment erblickte sie mich und lächelte mit ihren strahlend roten Lippen, dessen Wirkung ihre Augen aber so gar nicht erreichte.
"Sie machen hier ja gleich sauber, nicht wahr?", flötete sie und steckte das Glätteisen in ihre Kosmetiktasche. "Dafür werden Sie ja sicherlich gut bezahlt."
"Es tut mir Leid, aber Sie irren sich", klärte ich die Dame auf und machte ein paar Schritte auf sie zu. Sie zog missbilligend eine dünne Linie gezupfter Augenbrauen hoch. "Ach so?"
Ich nickte. "Ich bin Urlauberin hier."
Die Dame schnaubte verächtlich, schnappte sich ihre Siebensachen und wandte sich zum Gehen. "Wenn Sie meinen. Eine dreckige Putzfrau würde besser zu Ihnen passen." Mit diesen Worten verließ sie das Badehaus.
Kopfschüttelnd und verwirrt darüber, was ich nun von der Begegnung der dritten Art halten sollte, machte ich mich auf den Rückweg zum Zeltplatz. Hatte die Frau in der Dusche ihr Gehirn gekocht? Ich hatte sie zuvor in meinem Leben noch nie gesehen. Wie sollte ich ihr also eine Veranlassung dazu gegeben haben, so abfällig mit mir umzugehen? Auch wenn die Dame mir völlig fremd gewesen war, so hatte sie es dennoch geschafft, mich innerlich empfindlich zu treffen.
Stella, der ich zurück am Zelt angekommen sofort alles erzählte, meinte, ich sei sicherlich der Sündenbock für ihre Laune gewesen. Irgendwas hatte sie derart geärgert und ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
Diese Erklärung war für mich so gut wie jede andere. Wir beschlossen, uns davon nicht weiter den Tag vermiesen zu lassen und uns auf die Dinnerparty am Abend zu freuen.