5 Whisky
Ich musste nachdenken. Dringend. Was heute alles passiert war, ging doch auf keine Kuhhaut mehr! Aber an unserem Zeltplatz hatte ich keine Ruhe dafür. Stella und Dave bekamen die Auswirkungen der überdimensionierten Fruchtbowl zu spüren, gackerten und kicherten und versuchten laufend, mich in ihre Albernheiten mit einzubinden. Ich beschloss, die Flucht zu ergreifen.
"Ich gehe noch eine Weile ans Wasser", teilte ich den beiden mit.
In dem Moment schien sich bei Dave ein Schalter umzulegen, der ihn wieder völlig klar im Kopf machte. "Bist du irre? Es ist stockdunkel", bellte er.
Überraschung, er hatte also etwas dagegen. Aber darauf war ich vorbereitet. Ich legte meine Hände auf seine Schultern und schob ihn leise fluchend vor mir her auf den Kiesweg, der in den kleinen Pinienwald hineinführte. Zwischen den Stämmen fiel warmes helles Licht hindurch, was schon aus der Ferne wohlig einladend wirkte. Die sanften Strahlen wurden immer wieder von tanzenden Schatten unterbrochen und dumpfe Klänge wehten mit der Abendbrise zu uns herüber.
"Siehst du", begann ich zuversichtlich und deutete mit ausgestrecktem Arm in Richtung der Lichter. "Da ist doch die Strandbar, von der wir im Internet gelesen haben. Erinnerst du dich?"
Dave seufzte nur, grunzte irgendwas in seinen nicht vorhandenen Bart und schlurfte zurück zum Zelt. "Nimm dein Handy mit", rief er noch über die Schulter zurück. Okay, das war jetzt einfacher gewesen als erwartet. Wunderbar!
In aller Ruhe und Gemütlichkeit legte ich die kurze Strecke durch die duftenden Bäume zum Strand zurück. Dabei strich ich mir wiederholt über die Oberarme. Ja, mit Top und Rock wurde es jetzt doch etwas kühl, aber nach dem brennend heißen Tag genoss ich es, wie der leichte Wind meine Haut streichelte. Genauso fühlte es sich an, wie eine liebevolle, sanfte Berührung.
À propos Berührung... Nein, noch nicht! Ich bremste meine wildgewordenen Flatterviecher in der Magengegend. Ich hatte von diesem Abend meine ganz genaue Vorstellung: einen guten Drink holen, mich irgendwo ein wenig abseits hinsetzen und die Stimmung genießen. Eben entspannt zu sinnieren und mich dieses Mal nicht ins nächste Gefühlschaos zu stürzen. Musste doch mal möglich sein, verfluchte Axt!
Am Strand angelangt zog ich meine Wedges aus, nahm sie in die Hand und schlenderte über den noch warmen Sand zur Strandbar.
Die Szenerie wirkte unglaublich romantisch. Die Bar war mit einem hellen Strohdach gedeckt, woran eine Lichterkette mit kleinen bunten Lampions befestigt war. Zwei Männer in weißem Hemd mit aufgeschlagenen Ärmeln mixten professionell die Cocktails, indem sie mit beeindruckenden Moves die Shaker in die Luft warfen und kreisen ließen. Rundherum steckten riesige Fackeln im Sand, die die gesamte Umgebung hell erleuchteten. Hier und da gruppierten sich Strandstühle, in denen Menschen es sich gemütlich gemacht hatten und sich Cocktails schlürfend unterhielten. Oh ja, genau das brauchte ich jetzt!
Allerdings war ich nicht darauf vorbereitet, bereits von der Cocktailkarte aus der Fassung gebracht zu werden. Mein Blick blieb sofort am Likely Story hängen, eine spannende Mischung aus Single Malt und den Säften von Orange, Limette und Birne auf Eis. Whisky also...
Hatte schonmal geholfen, oder? Ehe ich es mich versah, saß ich mit einem Whiskymix und meinen Schuhen neben mir im Sand und sah dem entspannten Treiben zu, von dem ich mich nun einige Meter entfernt hatte.
Ich nahm einen großen Schluck von meinem Cocktail und versuchte nicht nur dem Geschmack, sondern auch der Beschaffenheit der Flüssigkeit nachzuspüren. Der sanfte rauchige Whisky fühlte sich in Kombination mit der Birne angenehm samtig an und sie vereinten sich zu einer süßen weichen Note. Die bitterfruchtige Säure von Orange und Limette ergänzte den mediterranen Touch und erinnerte mich auf überraschend subtile Weise, wo ich mich eigentlich befand.
In Italien. Am Strand. Abends und allein. Sinnierend über den absolut verrückten Tag, an dem sich Drama und Entspannung die Türklinke in die Hand gegeben hatten. Mittendrin zwei Typen, um deren Bekanntschaft ich nun absolut nicht gebettelt hatte. Aber jetzt waren sie nunmal da und ich musste mir darüber klarwerden, was ich davon halten wollte.
Da war zunächst Angelo, der mich nicht nur mit seinem umwerfend perfekten Aussehen - ernsthaft, der Typ muss doch den alten weisen Mann im Himmel bestochen haben - sondern auch seiner vorsichtigen fürsorglichen Art aus dem Konzept gebracht hatte.
Dass jemand auf mich aufpasste, seine Augen überall hatte und dafür sorgte, dass es mir gutging, war ich ja von Dave gewohnt. Aber Angelo und ich waren uns absolut fremd. Nachdem er mich nach meinem Sturz heute Morgen nahezu angefleht hatte, ihn anzusehen und was zu sagen, könnte ich dennoch glauben, ihm wichtig zu sein. Die Frage ist nur, warum.
An dem Punkt kam ich vorerst nicht weiter. Seufzend nahm ich einen weiteren Schluck aus meinem Glas und blickte aufs Meer hinaus, das ruhig, spiegelglatt und schwarz vor mir lag.
Der Whiskygeschmack führte mich zurück an den frühen Abend zur Terrasse der Cocktailbar. Dass ich mich in Bezug auf den Unfall und die Erinnerungen daran in einem absoluten Ausnahmezustand befunden hatte, darüber brauchte ich gar nicht nachzudenken. Dass ich in der Angelegenheit noch viel zu tun hatte, war mir auch klar. Aber das war nicht der Punkt.
In einer Situation, über die ich sämtliche Kontrolle verloren und mich nicht mehr im Griff hatte, war jemand zu mir gekommen, dem ich offensichtlich ohne Nachzudenken sofort vertraut hatte. Der es geschafft hatte, innerhalb kürzester Zeit intime Saiten in mir anklingen zu lassen, die mir unmissverständlich deutlich machten, dass mein letzter Sex schon ein Weilchen her war. Wie er meine Lippen berührt hatte... Warum?
Irgendwie wurde ich den Gedanken nicht los, dass er in dem Augenblick selbst einer inneren Eingebung, einem Drang, gefolgt war. In seinem Gesicht war so viel Action gewesen, dass der Kampf, den Dion im Inneren wohl ausgefochten hatte, selbst für einen Blinden sichtbar gewesen wäre. Dennoch hatte es ihn nicht davon abgehalten, mir für einen kurzen Moment nah zu sein.
In den Sekunden hatte ich mich attraktiv, begehrt und wunderschön gefühlt. Wie die selbstbewusste starke Frau, die ich immer anzustreben versuchte.
Mit dem nächsten Schluck leerte ich mein Glas und stellte es neben den Wedges in den Sand. Ich schlug die Arme um meine angezogenen Beine und sinnierte noch eine Weile weiter, aber allmählich drehten sich meine Gedanken im Kreis. Gefühlschaos. Genau das, was ich in diesem Urlaub vermeiden wollte. Bergab und rückwärts, aber lief!
"Ich wusste doch, dass wir uns heute nochmal sehen", riss mich eine mir mittlerweile bekannte Stimme aus meinem Gedankenkreisel. Ich blickte mich um und sah in die goldbraunen Augen eines italienischen Engels, die im Schein der Fackeln umso mehr funkelten. Angelo, dieses Mal in einem hellen dünnen Pullover und einer leichten braunen Leinenhose gekleidet, stand hinter mir und hielt eine dünne dunkelgraue Wolldecke ausgebreitet vor sich.
"Darf ich, Signorina?", fragte er und machte einen kleinen Schritt auf mich zu.
Ich nickte dankbar und ließ mir die Decke umlegen. Da auf der rechten Seite die Schuhe und das leere Glas standen, ließ sich Angelo zu meiner Linken im Sand nieder.
"Whisky?" Er deutete mit seinem Blick an mir vorbei aufs leere Glas. "M-hm", machte ich verlegen. Was soll's - ich hatte es genossen!
"Geht es dir gut, Franka? Nach heute Morgen?" Aufmerksam blickte er mir ins Gesicht. Ich lächelte etwas beschämt bei der Erinnerung an mein Missgeschick. "Ja, alles gut. Mein Bruder hat sich noch drum gekümmert", berichtete ich.
Es entstand eine Pause, in der wir verträumt auf den Horizont sahen. Kleine Wölkchen und Sterne spiegelten sich auf dem Wasser und in der Ferne zogen die Lichter eines großen Schiffes kaum wahrnehmbar von einer Seite zur anderen.
"Ich habe gehört, dass du heute Dion kennengelernt hast", begann Angelo auf einmal. Überrascht sah ich auf, lehnte mich zurück und stemmte hinter mir die Hände in den Sand.
"Du kennst ihn?", erkundigte ich mich.
"Ja", erwiderte er seltsam bedeutungsschwanger und spielte mit einer Hand im Sand. Er machte keine Anstalten weiterzurreden, also hakte ich nach.
"Magst du ihn nicht?"
Angelo seufzte und sah mich dann über seine rechte Schulter hinweg sehr eindringlich an. Himmel, ich bekam Gänsehaut! Da war es wieder, dieses Gefühl, dass er auf mich aufpassen wollte.
"Er ist ein toller Mensch, aber er führt ein sehr kompliziertes Leben", antwortete er entwaffnend ehrlich. Ich nickte nur und unterbrach den Blickkontakt. Angelo und ich wussten nichts übereinander. Warum hielt er es dann für notwendig, mir seine Meinung über Dion mitzuteilen? Für ihn schien das große Bedeutung zu haben, wenn er das derart in den Vordergrund stellte. Aber ich beschloss, das erstmal nicht für mich zu bewerten, ehe ich Angelo nicht besser kannte. Oder Dion.
"Erzähl mir von dir", forderte ich ihn auf. "Was machst du hier auf dem Campingplatz?" Angelo lächelte geheimnisvoll und blickte vor sich in den Sand.
"Komm morgen zum Pool, wenn du magst. Dann erfährst du mehr."
"Okay", versprach ich... und zuckte ein wenig zusammen, als plötzlich die Lichterkette an der Strandbar erlosch. Mit einem Blick aufs Handy stellte ich erschrocken fest, wie spät es inzwischen geworden war. Noch ehe ich etwas sagen konnte, war Angelo bereits auf den Füßen und streckte mir lächelnd seine Hand entgegen. Bevor ich sie ergriff, hängte ich mir noch die Wedges an die Finger und ließ mich dann hochziehen.
"Merda!", fluchte er, als ich das Gleichgewicht verlor und schonungslos gegen ihn plumpste. "Franka?" Er legte einen Arm fest um meinen Rücken, drückte mich an sich und strich mir mit der anderen Hand Haare aus dem Gesicht.
"Mmmmmmmhhh", machte ich und lächelte zufrieden. "Guuuuuuuuter Whisky!" Jupp, ich war absolut nicht im Training, was den Umgang mit Alkohol betraf. Upsi!
"Dann schläfst du wenigstens gut", kommentierte Angelo süffisant. Dann zog er meinen Arm um seinen Nacken, hob mich hoch und machte sich mit mir auf den Armen auf den Weg in Richtung Campingplatz.
Stella hatte es sich draußen vor dem Zelt mit einem Buch gemütlich gemacht. Auf dem Hardcovereinband klemmte eine kleine Leselampe und die weite Schalenkerze auf dem Tisch spendete mit ihrer großen Flamme helles, atmosphärisches Licht. Aus dem Zelt dudelte entspannte Musik aus einer kleinen Bluetoothbox, die sich auf lustige Weise mit dem herzhaften Schnarchen meines Bruders mischte. Wäre ich zurechnungsfähig gewesen, hätte ich laut losgelacht.
Als sie ruhige, gleichmäßige Schritte auf dem Kiesweg vernahm, die sich deutlich dem Zelt näherten, blickte Stella auf..., schlug dann hastig das Buch zu und warf es achtlos auf den Tisch neben sich.
"Du bist doch Angelo, oder?", fing sie sofort an und rannte die letzten paar Schritte auf uns beide zu. "Was ist mit ihr passiert?" Stella studierte mein Gesicht und legte eine Hand auf meine Wange. Ich knurrte leise vor mich hin und Angelo gluckste amüsiert.
"Nichts", erwiderte er und trug mich weiter zu unserem Zeltplatz. "Nur ein bisschen Whisky. Ist das hier ihr Zelt?" Als Stella wortlos nickte, kroch Angelo mit mir hinein und legte mich auf meiner Luftmatratze ab, was ich augenblicklich mit eindeutig nicht erotischem Schnarchen quittierte.
"Whisky?", wiederholte Stella ungläubig. "Das Mädchen verträgt doch nichts und das weiß sie auch. Sie würde doch niemals... Hast du etwa...?"
Noch ehe Stella den Satz zuende sprechen konnte, schüttelte Angelo den Kopf, dass die Locken flogen. "Als ich zu ihr kam, war ihr Glas schon leer", berichtete er. "Sie saß im Sand und war in Gedanken versunken."
Die beiden sahen mir einen Moment lang wortlos beim Schlaf der Gerechten zu. Schließlich seufzte Stella und hob die Schultern. "Okay", meinte sie. "Vielleicht erfahre ich ja morgen mehr von ihr. Danke, dass du sie hergebracht hast, Angelo."
Er nickte und warf nochmal einen Blick auf mich. "Ich hätte gar nicht anders gekonnt", murmelte er leise. "Sie ist irgendwie besonders." Als Stella ihn fragend anblickte, wünschte er eilig eine gute Nacht und verschwand ohne sich erneut umzusehen in der Dunkelheit.
Verständnislos schüttelte Stella den Kopf und zog mein Zelt zu. Whisky! Allein am Strand! Das durfte sie Dave gar nicht erzählen. Stella war sich sicher, dass ich ihr etwas verheimlichte, weil ich mich so untypisch und wirklich unvorsichtig verhielt.
Morgen gab es definitiv Redebedarf!