4 Kussecht
Ich lief bis zum Geländer, krallte mich daran fest und schloss die Augen. Diese verdammten Panikattacken plagten mich nun seit Wochen und ich konnte von Glück sagen, dass ich das bisher vor meinem Bruder verbergen konnte. Wenn ich das aber nicht bald in den Griff bekam, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis Dave darauf aufmerksam werden würde. Und dann würde er mir keinen Zentimeter weit vertrauen, dass ich auch allein zurechtkam.
Auf einmal schossen wieder die Scheinwerfer des heranrasenden Autos durch meinen Gedankennebel. Jeden Moment würde ich wieder diesen metallischen Knall hören und den schmerzhaften Ruck spüren, der von oben bis unten durch meinen Körper gegangen war. Es war unvermeidlich, jede Sekunde war es soweit!
"Nein! Nein!"
Jetzt!
Ich rang nach Luft, ließ das Geländer los und taumelte rückwärts.
Ich fiel in einen starken Arm, der mich aufrecht hielt und sich warm auf meinem Rücken anfühlte. "Alles okay?", fragte eine tiefe, dominante Stimme und meine Augen suchten nach dem dazugehörigen Gesicht.
An dieses eindringliche, hell strahlende Grau, welches dazu elektrisierende Impulse zu versprühen schien, würde ich mich mein Leben lang erinnern. Wangen- und Kieferknochen wirkten markant und weich gleichzeitig, als hätte eine liebende Hand sie aus Ton geformt. Seine entspannt aufeinandergelegten Lippen ergänzten das Gesamtbild um eine weitere Note, die auf ihre Weise zart und einfühlsam wirkte.
Moment, er hatte mir eine Frage gestellt. Tief Luft holen!
"Ja", hauchte ich, ohne meinen Blick von seinen Augen zu lösen. "Mir geht's gut." Meine Atmung ging wie nach einem Hundertmeterlauf. Skeptisch zog er eine Augenbraue hoch. "Sieht aber nicht danach aus", stellte er nüchtern fest und unterbrach unseren Augenkontakt. Wenige Schritte entfernt erblickte er zwei Barhocker mit Tisch, wo er mich noch immer mit einem Arm um die Schultern hinbugsierte und auf einen der Hocker schob. Erst als ich sicher saß, ließ er mich los und stellte ein Nosingglas mit einer kleinen Menge bernsteinfarbenen Whiskys vor mir ab. Hatte er das etwa die ganze Zeit über schon in der Hand gehabt?
"Nimm einen Schluck, das hilft." Sein entschlossener Ton ließ keine Widerrede zu. Mit zitternder Hand griff ich nach dem Glas und befolgte seinen Rat. Eigentlich mochte ich keine harten Drinks, aber der Whisky hinterließ ein angenehmes und seidiges Gefühl auf der Zunge zurück, welches mich irgendwie entspannte.
Während er nun auf dem Barhocker gegenüber Platz nahm, schob ich ihm das Glas wieder zu und lächelte ihn dankbar an. "Hilft wirklich", bemerkte ich und stellte beruhigt fest, wie die Welt um mich herum zum Stillstand kam. Das weiße, leicht schimmernde Hemd spannte sich um seine breiten Schultern, als er sich zurücklehnte und die Arme verschränkte.
Ach du lieber Himmel, ich war einfach mal ganz elegant gegen den faszinierenden Sportwagenfahrer geplumpst, den ich vorhin so taktvoll angegafft hatte. Offensichtlich war ich in diesem Urlaub die Meisterin der katastrophalen ersten Eindrücke.
"Schmeißt du dich jedem beliebigen Kerl erstmal in die Arme, den du nicht kennst?", begann er süffisant und setzte sich seine Sonnenbrille auf. Zwar war die Sonne fast untergegangen, trotzdem wirkte er damit unglaublich stilsicher und lässig. Ich musste schlucken.
"Naja..." Bemüht um Selbstsicherheit richtete ich mich auf und schlug die Beine übereinander. "Der Trustfall ist doch perfekt dazu geeignet, um herauszufinden, wem man vertrauen kann, oder nicht?" Herausfordernd blickte ich ihn an. "Außerdem bist du mir nicht mehr fremd, wenn du dich mir vorstellst."
Ein Lächeln umspielte seine Lippen und brachten kleine Lachfältchen zum Vorschein. "Du denkst schnell. Das mag ich." Er winkte den Kellner heran, der gerade die Terasse betrat, und bestellte für mich ein Glas Wasser. "Ich bin Dion", nahm er den Faden wieder auf.
"Franka", erwiderte ich. "Dion, du brauchst wirklich nicht..."
Er nahm die Sonnenbrille wieder ab und unterbrach mich mit seinen blitzenden Augen. "Einfach danke zu sagen ist nicht so dein Ding, oder?"
Ertappt blickte ich an mir herunter und lächelte etwas beschämt. "Sorry... Danke dir!"
"Möchtest du über den Unfall reden?", bot er völlig unvermittelt an. Ich hatte plötzlich das Gefühl, als hätte mir jemand eine schallende Ohrfeige verpasst. "Woher weißt du...?"
Dion hob die Schultern. "Vielleicht gut geraten?" Eigentlich ließ diese Antwort mehr Fragen offen als geklärt.
Er nahm einen Schluck von seinem Whisky, drehte anschließend das Glas mit seinen Fingern, nachdem er es wieder abgestellt hatte und blickte für einen kurzen Moment nachdenklich darauf. Dann lächelte er mit einem Mundwinkel, zwinkerte mir zu und leerte sein Glas.
"Nein", löste er seine eigene Frage auf. "Ich bin nur ein sehr aufmerksamer Mensch."
"Dann hast du schon mehr mitbekommen als mein eigener Bruder", kommentierte ich. "... was auch gut so ist!" Ich hob abwehrend die Hände. "Wenn Dave irgendwann schnallt, womit ich manchmal zu kämpfen habe - er und ich hätten beide keine ruhige Minute mehr."
Dion sah mir fest in die Augen und ich konnte ehrliche Besorgnis in seinem Blick lesen. Er setzte an, etwas zu sagen, unterbrach sich aber selbst, als der Kellner mit meinem Glas Wasser zurückkam. Höflich lächelnd nickte er ihm zu und wartete, bis wir wieder allein waren.
"Von mir erfährt niemand was", versprach Dion und deutete mit einem Finger auf mein Glas. Lächelnd und angenehm beeindruckt von seiner Fürsorge setzte ich das Glas an die Lippen und zog es sofort halb leer. Nachdem ich es wieder abgestellt hatte, wischte ich verstohlen meinen Lippenstiftabdruck vom Rand ab. "Upsi!"
Aus Dions Kehle dran ein tiefes charmantes Kichern, was mein Blut unterwartet in Wallung brachte und mich verlegen aufs Meer blicken ließ. Der Typ triggerte mich auf eine aufregende und gefährlich neugierig machende Art. War es das, was ich immer in meinen Schnulzen gelesen hatte? Wenn die Hauptperson wie vom Blitz durchzogen spürte, dass sie mehr wollte? Wenn plötzlich aus unerfindlichem Grund unendliches Vertrauen entstanden war und man sich nicht vorstellen konnte, diese Person nie wieder zu sehen?
Irgendwas in mir drängte mich dazu, mich erneut fallen zu lassen, von ihm aufgefangen zu werden und die Gewissheit zu spüren, dass alles gut würde. Dass Schwachsein okay war und mal die Stärke ablösen durfte, die ich mir grundsätzlich abverlangte.
"Nicht kussecht", kicherte ich und wollte die Situation locker retten. Böser Fehler!
Dion und ich blickten uns in die Augen. Ich konnte nicht erkennen, was da in seinem Blick lag, aber sein Stahlgrau schien zu blitzen und zu leuchten. Seine Nasenflügel bewegten sich leicht, seine Wangenmuskeln schienen Leistungssport zu betreiben. Er schluckte, streckte langsam seine Hand aus und berührte sanft mit einem Daumen meine Lippen. Unfähig, mich zu rühren, starrte ich ihn einfach weiter an und strengte mich an, mir dieses zarte, kribbelnde Gefühl auf meiner Haut einzuprägen. Ich würde später darüber nachdenken.
Mein Herz würde es tun. Gezwungenermaßen. Und ich würde es wollen. Unglaublicherweise.
Sachte entfernte Dion seine Hand wieder und blickte lächelnd seinen Daumen an. "Stimmt", bestätigte er.
Ich konnte immernoch nicht glauben, was da gerade passiert war. So hatte mich noch nie jemand angesehen, jemand berührt. So wertschätzend und liebevoll, stumm mit den Augen um Erlaubnis bittend.
Der Moment war vorüber, und alles in mir wollte, dass er es wieder tat. Der Wind spielte durch meine Haare im Nacken und ließ den Chiffon meines Rocks verführerisch fliegen. Meine Lippen zitterten, blieben leicht geöffnet und meine Augenlider flatterten. Was hatte er mit mir gemacht? Und machte ich das Gleiche mit ihm?
Dion räusperte sich, setzte seine Sonnenbrille erneut auf und lehnte sich vom Tisch weg. Die plötzliche räumliche Distanz katapultierte mich ins Hier und Jetzt zurück. Erst jetzt bemerkte ich meine Atemlosigkeit und hatte den unvermeidlichen Drang, sofort mein Wasserglas zu leeren.
"Mit wem bist du hier, fragte Dion. Er hatte zu seiner beherrschten Selbstsicherheit zurückgefunden und einen unverfänglichen Plauderton angestimmt.
"Mit meinem Bruder und seiner Freundin." Noch während ich sprach, nickte ich. "Ich sollte zu ihnen zurückgehen." Ich blickte an mir herunter, um die Höhe des Barhockers einzuschätzen und sicher auf meinen Füßen zu landen.
Dion hob eine Hand, um mich zu unterbrechen und kam zu mir herüber. "Darf ich?", fragte er und legte die Hände auf meine Seiten. Unbedingt, brüllte mein Kopf, doch ich nickte nur zart. Ohne den Anschein großer Anstrengung hob Dion mich vom Hocker und stellte mich sanft auf den Füßen ab. Seine Hände ruhten einen Moment länger als notwendig gewesen wäre auf meiner Taille. Empfand er sowas wie Faszination für mich? Hatte ich ihn neugierig gemacht?
Dann gab er mich frei und deutete charmant lächelnd Richtung Tür. "Nach dir!"
"Danke...", hauchte ich. "Für alles!" Er nickte wissend und strich mit seiner Hand tröstend über meine hintere Schulter. "Alles wird gut, okay?"
"Ja", flüsterte ich zurück und ging hinein. Eine weitere Berührung, die ich nicht vergessen würde. Nicht vergessen wollte. Ich sah nicht mehr, dass Dion nachdenklich auf seinen Barhocker zurückkehrte, sich der untergehenden Sonne auf dem Meer zuwandte und dort verweilte, bis sie nicht mehr zu sehen war.