3 Willkommen auf Hardon Abbey
Voller Euphorie warf Melody die Wohnungstür ins Schloss und stieß einen befreiten Freudenschrei aus. Sie hatte es doch tatsächlich geschafft! Soeben war sie von der Uni wiedergekommen, wo sie die erforderten drei Exemplare ihrer Masterarbeit eingereicht hatte. Welche Erleichterung das für sie bedeutete, das hatte sie sich zwar schon oft versucht vorzustellen, war aber um Längen nicht mit dem echten Gefühl zu vergleichen.
Sie war nun frei!
Keine Recherchen mehr, keine unendlichen Stunden zwischen staubigen Büchern in der Bibliothek, kein Herumschlagen mehr mit dem Schreibprogramm, was einfach nie das tat, was es sollte, keine nie enden wollenden Nachtschichten mehr und vor allem keine Angstzustände mehr, dass die Zeit zu knapp bemessen wäre.
Ganz nach ihrer Art feierte Melody ihren neuen Lebensabschnitt mit einem starken Kaffee und nahm sich einen Moment der Ruhe auf der Couch. Erst dann tippte sie eine SMS an Teo.
Melody, 10:03 Uhr
Geschafft! Masterarbeit abgegeben! Ich bin so erleichtert und glücklich. Wie geht es dir? <3
Teo, 10:05 Uhr
Glückwunsch, dann hat das ja endlich ein Ende. Warum hast du mir gestern auf meine Gute-Nacht-SMS nicht mehr geantwortet?
Melody, 10:06 Uhr
Entschuldige, ich habe da schon geschlafen.
Teo, 10:08 Uhr
Du weißt doch, dass ich dir abends immer schreibe. So lange kannst du also nicht warten? Wir müssen reden, wenn ich aus Paris wieder da bin.
Melody, 10:11 Uhr
Ja, das müssen wir. Ich bin über die Feiertage auf Hardon Abbey und nehme mir eine Auszeit. Pass auf dich auf und viel Erfolg in Paris!
Teo, 10:13 Uhr
Okay, dann gute Reise! Aber ich kann dich ja weiterhin immer erreichen. Ich will ja wissen, was du machst.
Melody, 10:16 Uhr
Teo, ich sagte Auszeit. Nein, ich werde mein Handy auch mal weglegen.
Teo, 10:17 Uhr
Entweder du hast das Handy immer im Blick oder du bleibst zuhause.
Melody, 10:17 Uhr
Nein!
Kurzerhand blockierte Melody Teos Kontakt und warf dann wütend das Handy beiseite. Ja, das war jetzt vielleicht nicht der richtige Weg, aber sie wollte sich jetzt nicht mit Teo herumärgern und sich die Vorfreude auf die Reise vermiesen lassen. Und die Gelegenheit, auf Hardon Abbey einmal zur Ruhe zu kommen, ausführlich mit Soraya und Jan zu reden und zu sich zu finden, wollte sie sich unter keinen Umständen nehmen lassen. Ungeachtet der Konsequenzen, die nach der Reise folgen würden. Darum würde sie sich dann kümmern, nicht jetzt.
Jetzt war erstmal ihr Ko er dran. In knapp zwei Stunden würde das Taxi vor der Tür stehen, das Soraya und Jan für sie bestellt hatten, um sie zum Flughafen zu fahren. Melody konnte es immernoch nicht glauben, dass es heute wirklich losging und sie sich einfach um nichts anderes kümmern musste, als pünktlich am richtigen Ort zu sein. Auch das Flugticket hatte sie per Post bekommen. Den beiden war es offensichtlich genauso ein Herzensanliegen wie ihr, dass sie sich endlich wiedersahen und Melody sie in ihrem Zuhause besuchte.
In Windeseile hatte Melody alles in einem mittelgroßen Rollkoffer verstaut und stand nun viel zu früh vor dem Haus auf dem Gehsteig, um auf keinen Fall das Taxi zu verpassen.
Der Flug nach Gatwick Airport dauerte lediglich anderthalb Stunden, die Melody ohne Musik auf den Ohren oder ein Buch zu lesen für sich genoss. Nachdem sie ihr Gepäck in Empfang genommen hatte, suchte sie in der Abflughalle den kleinen runden Stand mit der Überschrift currency exchange auf und ließ sich einige Euroscheine in britische Pfund umtauschen. Dann begab sie sich zum Ausgang, wo laut Sorayas letzter Nachricht erneut ein Fahrer auf sie warten sollte, der sie dann in knapp einer Stunde zur Südküste in Richtung Seaford bringen würde. Irgendwo da lag Hardon Abbey.
Die letzten Minuten der entspannten Autofahrt führten direkt an der Küste entlang. Die Seven Sisters, eine überwältigende Wand aus strahlend weißem Kreidefelsen, hatte Melody schon vom Flugzeug aus bestaunt und nahm sich fest vor, den Seven Sisters Walk in Angriff zu nehmen und auch Chuckmere Haven Beach zu besuchen.
„Liegt Hardon Abbey direkt an der Küste?“, fragte Melody den Fahrer interessiert und suchte über den Innenspiegel seinen Blickkontakt. Der nickte lächelnd und bog in eine kleine Seitenstraße ein, die mitten ins Nirgendwo zu führen schien. „Ja, Ma'am. Wir sind gleich da.“
Die letzten Meter schlich das Auto über einen feinen hellen Kiesweg, der von sorgfältig in Form geschnittenen Buchsbaumkugeln gesäumt war. Schließlich umrundete der Fahrer ein buntes üppig gestaltetes Blumenbeet und kam direkt vor der breiten Treppe, die zum Haupteingang hinaufführte, zum Stehen. Der Gentleman nahm in Kauf, dass Melody mit den Gepflogenheiten des Türaufhaltens nicht vertraut war und lächelte diskret, als sie mühevoll die schwere Wagentür aufdrückte. Während sie sich erhob, lenkte sie ihren Blick staunend über das imposante Gebäude.
Hier stand sie nun, mit einem Bein noch im Auto, mit dem anderen auf dem Kies, vor einem hohen aus Kalkstein erbauten typisch britischem Landhaus. An den langgezogenen Mittelteil grenzte zu beiden Seiten jeweils noch ein Flügel an und alle Gebäudeteile erstreckten sich über zwei Stockwerke mit hohen Wänden sowie zusätzlich ein Dachgeschoss. Teile der Kalksteinfassade waren mit Efeu überwachsen, welches sorgsam gestutzt einzelne Fenster einrahmte und so das Bauwerk auf subtile Art in die umgebende Natur einbettete.
Am angrenzenden Nebengebäude auf der linken Seite, welches früher vermutlich als Stallungen gedient hatte, rankten ebenfalls Efeu und wunderschöne bunte Blumen hinauf. Melody verspürte sofort das unbändige Verlangen, dort einzuziehen und entspannte ruhige Abende mit Tee und einem guten Buch auf der Couch in eine kuschelige Decke gewickelt vor dem Kaminfeuer zu erleben.
„Melody, wie schön, dass du da bist!“ Soraya trat durch die imposanten Flügeltüren nach draußen und schien die Treppen hinunter zum dunklen Wagen zu schweben. Ihre feinen Seidenpumps hinterließen kleine Abdrücke in der zarten Pulverschneedecke und das rauchblaue Chiffonkleid, welches von eleganten Blumenstickereien an der Corsage überzogen war, umspielte ihre helle Haut. Ihre blonden Haare lockten sich um die Schultern und Melody fiel es schwer, nicht sofort wieder an die Erscheinung eines liebevollen Engels zu denken. Oh, wie hatte sie ihre Freundin vermisst!
Lächelnd ließ sie sich in die Arme nehmen und spürte die innige Vertrautheit zu ihr, die sie sich zuhause so oft ersehnte. Soraya wohnte einfach viel zu weit weg.
„Ich kann es kaum glauben, dass du wirklich da bist und wir zusammen hier Weihnachten feiern werden“, sagte Soraya mit ihrer weichen Stimme und blickte Melody mit leuchtenden Augen an.
„Ich hatte mich darauf so sehr gefreut“, bestätigte Melody. „Ihr lebt hier wirklich an einem wunderschönen Fleckchen Erde und ich bin gespannt, was ich alles noch auf meinen Spaziergängen hier sehen werde.“ Schließlich stieg sie auch mit dem zweiten Fuß aus dem Auto aus und warf etwas zu schwungvoll die Tür zu. Soraya kicherte verhalten und ergriff Melodys Hand.
„Komm, lass uns reingehen. Der Wind hat aufgefrischt und ist ziemlich scharf geworden, findest du nicht?“ Ohne die Antwort abzuwarten, zog Soraya ihre Freundin über den Kiesplatz und steuerte das romantische kleine Nebengebäude an. „Wir haben für dich das kleine Cottage hier hergerichtet“, erklärte Soraya und schien von ihrer eigenen Idee begeistert zu sein. „Wir dachten, es wäre genau das Richtige für dich, damit du dich nach deinen Wünschen auch zurückziehen und zur Ruhe kommen kannst. So werden die anderen Gäste keine Fragen stellen, wenn du es auch nicht möchtest und kannst dich hier ganz wie zuhause fühlen.“ Melody hätte ihre Freundin dafür küssen können. Konnte sie etwa Gedanken lesen?
Gemeinsam traten die beiden durch die kleine hölzerne Rundbogentür, die von außen mit einem weihnachtlichen Tannenkranz geschmückt war. Sie wurden von einer wohligen Wärme empfangen, die vom befeuerten Kamin gegenüber der Eingangstür herrührte. Direkt daneben stand ein kleiner mit hellem Kunstfell ausgestatteter Sessel und ein winziger Beistelltisch, der Platz für eine schlanke Vase mit einem leuchtend roten Weihnachtsstern und einer potenziellen Kaffeetasse bot. Melody stellte sich vor, wie sie sich hier morgens bei frisch aufgelegtem Feuerholz noch im Pyjama am Fenster einkuscheln, friedlich ihren Morgenkaffee schlürfen und dabei auf die raue See in der Ferne blicken würde. Auf der linken Seite erblickte sie die kleine Küchenzeile, die schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben schien. Die Einbaugeräte waren jedoch auf dem neuesten Stand der Technik und mussten erst vor Kurzem installiert worden sein. Rechterhand konnte Melody einen Blick durch die niedrige alte Holztür auf ein üppig mit Kissen und Decken ausgestattetes Bett werfen. Direkt daneben lag der Durchgang zum Duschbad mit einer hochmodernen Regenwalddusche, die so geräumig war, dass sie darunter hätte tanzen können.
Melody bemühte sich, nicht direkt vor Freude loszuweinen. Hier war alles, was sie brauchte. Nicht mehr und nicht weniger. Die wohlige Atmosphäre, die dieses mit Liebe und Hingabe eingerichtete Cottage ausstrahlte, war für sie gerade der Inbegriff von Glück.
Soraya bedankte sich herzlich beim Fahrer, der gerade die Koffer durch die Tür schob und ins Schlafzimmer zerrte. Mit einem freundlichen Kopfnicken verließ er schließlich das Cottage wieder, kehrte zum Auto zurück und fuhr ab. Ob er wohl noch weitere Gäste des Hauses abholen würde? Vielleicht welche, die Melody auch kannte und ewig nicht mehr gesehen hatte.
Soraya schloss die Tür, durch die der eisige Dezemberwind hineinwehte und trat mit Melody gemeinsam in die Küche. Durch das mit dunklem Efeu eingerahmte Fenster blickten sie auf die lange Auffahrt, die der Wagen auf dem Weg zum Anwesen passiert hatte.
„Ich hoffe, es gefällt dir hier und du fühlst dich wohl.“ In weiser Voraussicht schaltete Soraya gleich die Kaffeemaschine für sie ein. „Es ist sehr klein, deswegen schenke ich mir auch den Rundgang mit dir. Du wirst dich sicher zurechtfinden. Richte dich ein, nimm dir Zeit. Und wenn du dann soweit bist, dann erwarten wir dich drüben im Salon, einverstanden?“
Melody nickte wortlos und ließ immernoch die herzliche Stimmung, die sie hier umgab, auf sich wirken. „Danke dir“, erwiderte sie schließlich, wickelte sich den Schal vom Hals und legte ihn auf die Anrichte neben der Kaffeemaschine. „Ich werde mich ein Weilchen von der Anreise ausruhen und dann bald zu euch kommen.“
Soraya stieß sich vom Türrahmen ab, gegen den sie sich gelehnt hatte, und wandte sich zum Gehen. Als sie bereits in der offenen Tür stand, warf sie noch einmal einen Blick zurück zu Melody. „Es wurde Zeit, dass du herkommst“, sagte sie leise und in ihren Augen lag ein unergründlicher Schleier von Traurigkeit und Sorge. Dann trat sie nach draußen und schloss die Tür hinter sich.
Melody seufzte, schälte sich aus Mantel und Mütze und hängte beides mit dem Schal zusammen an den Kleiderhaken neben der Haustür. Dann ließ sie Kaffee in eine weite Emailletasse einlaufen und begann mit dem duftenden heißen Gebräu in beiden Händen ihre eigene kleine Wohnungstour. Schließlich kam sie bei dem gemütlichen Kunstfellsessel am Kamin wieder an, setzte sich hinein und betrachtete eine lange Weile gedankenversunken das Meer. Ja, das würde sie in den nächsten Tagen hier noch sehr oft tun.
Als sie ihre Tasse geleert hatte, besorgte sie sich gleich Nachschub und kehrte zum Sessel zurück. Offensichtlich hatte sich Soraya daran erinnert, dass bei Melody ohne guten Kaffee gar nichts ging und ihr eine besonders aromatische Bohne zur Verfügung gestellt. Sie war einfach die beste Freundin, die sie sich nur wünschen konnte.
Erst jetzt erblickte Melody den cremefarbenen Briefumschlag aus Büttenpapier, der wohl mit Absicht ein wenig unter der Vase mit dem Weihnachtsstern versteckt worden war. Sie stellte ihren halbvollen Kaffeebecher beiseite und zog vorsichtig den Umschlag unter der Vase hervor. Ja, darauf stand in der Tat ihr Name und die Handschrift erkannte sie ganz genau. Sie gehörte definitiv nicht zu Soraya und ihr Herzschlag beschleunigte sich schlagartig.
Er war hier gewesen. Und er wusste, dass sie da sein würde.
Mit zitternden Fingern öffnete sie den Umschlag und zog ein sorgfältig gefaltetes und mit der dunkelblauen Tinte eines breiten Füllfederhalters beschriebenes Briefpapier heraus.
Meine liebe Melody,
du weißt, ich bin nicht der Mann der großen Worte. Das kannst du viel besser als ich. Das habe ich in unseren letzten Briefen immer sehr genossen und sie deshalb freudig erwartet. Deswegen hat mich das schon ziemlich traurig gemacht, dass auf meinen letzten Brief vor einigen Monaten nichts mehr kam.
Als ich erfuhr, dass du in diesem Jahr bei der Weihnachtsfeier auf Hardon Abbey sein würdest, war für mich klar, dass ich herkommen musste. Du erinnerst dich sicher, dass ich solchen Feierlichkeiten eigentlich lieber aus dem Weg gehe. Aber die Gelegenheit, dich zu treffen und mit dir zu reden, konnte ich mir nun nicht entgehen lassen. Ich hoffe, dass nichts dazwischengekommen ist und du gut hierher in das kleine Cottage gefunden hast.
Liebe Grüße
Jaris
Melody schluckte ihren Kloß im Hals hinunter, räusperte sich und nahm einen rettenden Schluck von ihrem Kaffee. Dann las sie den Brief erneut. Nein, auch das half nicht zu ergründen, wie Jaris nach all der Zeit schließlich noch zu ihr stand. Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als es persönlich herauszufinden, sobald sie den Mut hatte, das Haupthaus zu betreten und sich unter die Leute zu wagen. Lange würde sie das nicht mehr hinauszögern können.
„Na dann, besser wird's nicht“, ermunterte sie sich selbst, leerte ihren Kaffeebecher und begab sich in das kleine Schlafzimmer, um sich ihrem Koffer zu widmen.