3 Erinnerungen
Den Rest des Tages gestalteten wir gemütlich und faul. Wir lagen in der Sonne und spielten Gesellschaftsspiele. Am frühen Nachmittag wurde es zum Sonnenbaden zu heiß. Die Sonne brannte gnadenlos und es wehte kein Lüftchen. Also zog ich mich mit meinem Lieblingsbuch in den angrenzenden Pinienwald zurück, der den Campingplatz vom Strand trennte und nun angenehmen Schatten spendete.
Ich liebte den Duft, den die Bäume ausströmten und sich mit der salzigen Meeresluft mischten. Wenn ich gewusst hätte wie, dann hätte ich den Duft wie ein Parfüm in eine Flasche eingeschlossen, um zuhause immer wieder einen Hauch Urlaubsluft schnuppern zu können und mich in die entspannte Zeit hier zurückzuträumen.
Am frühen Abend kam ein leichter Wind auf und lud uns nahezu ein, auszugehen und die sommerliche Nacht zu feiern. Wir beschlossen, in der Cocktailbar auf unseren Urlaub anzustoßen und dort zu essen. Keiner von uns hatte Lust, am ersten offiziellen Urlaubstag zu kochen.
Dave war mit einer kurzen weißen Jeanshose und einem hellblauen Hemd, welches er an den Armen aufgeschlagen hatte, schnell fertig. Einmal mit der Hand durch die blonden Haare gewuschelt, wartete er nun vor dem großen Zelt, bis auch Stella und ich uns in Schale geworfen hatten.
Ich hatte mich für ein weißes Crop Top mit einem schwarzen Maxirock aus Chiffon entschieden, dazu meine dunkelbraunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und kleine Kreolen angelegt. Schnell chic, ganz mein Motto. Ich gesellte mich zu Dave, um mit ihm auf Stella zu warten, und ließ es über mich ergehen, dass er erneut meine Handgelenke überprüfte. Achtung, Spoileralarm: nichts Neues!
Endlich kam auch Stella aus dem Zelt gekrochen und zog schwungvoll die Reißverschlüsse der Tür nach unten. Sie hatte wirklich das volle Programm abgezogen. Smokey Eyes, gelockte Haare, lackierte Nägel und ein strahlend roter Hosenanzug aus weichem Baumwollstoff. Ich schüttelte nur den Kopf, während Dave seine Freundin verliebt anschmachtete. Okay, jetzt war mir klar, warum sie jede sich bietende Gelegenheit wahrnahm, um sich richtig herauszuputzen. Dave stand drauf, ganz einfach!
Langsam schlenderten wir über den Platz in Richtung Restaurant. Der abendliche Wind trug die salzige Meeresluft direkt zu uns herüber und ich beschloss, nach dem Essen auf jeden Fall noch an den Strand zu gehen. Der Sonnenuntergang würde unvergleichlich schön werden und keine Kamera der Welt könnte die Stimmung einfangen, die ich dabei empfinden würde.
Stella und Dave schlenderten Hand in Hand nebeneinander vor mir her und unterhielten sich über gemeinsame Freunde, die ich nicht kannte. Also kramte ich mein Smartphone aus der Clutch und tippte schnell eine Nachricht an meine Mom, dass alles in Ordnung sei und wir gut angekommen waren.
Auf einmal trat ich auf einen besonders großen Kieselstein, knickte mit meinen eleganten Wedges um und angelte nach dem Gleichgewicht. Keine Sekunde zu früh war Dave bei mir, packte meine Oberarme und hielt mich aufrecht.
"Franka? Ist dir schwindelig geworden?" Hastig schüttelte ich den Kopf und hielt meinem Bruder das Handy vor die Nase. "Alles gut. Hab Mom geschrieben und nicht auf den Weg geachtet." Dave seufzte, prüfte, ob ich sicher stand und ließ mich langsam los.
"Dave", schaltete Stella sich ein. "Mach dir keine Sorgen, so schlimm war der Sturz heute Morgen auch wieder nicht." Dankbar blickte ich sie an. Mein Bruder wäre mir womöglich noch den ganzen Abend damit auf die Nerven gegangen, wenn sie ihn nicht beruhigt hätte. Auf mich hörte er selten, auf Stella allerdings fast immer.
Ich steckte das Handy zurück in die Clutch und zockelte wieder hinter den beiden her.
Das Restaurant und die Bar lagen in einem Gebäude, das sich direkt an der Haupteinfahrt des Campingplatzes befand. Im Erdgeschoss wurden die köstlichen italienischen Speisen serviert, die man auch draußen auf der geräumigen Terasse genießen konnte. Eine breite Treppe führte ins lichtdurchflutete Obergeschoss, wo ausgefallene Cocktails ihren Weg zu den Gästen fanden.
Die Architektur des Gebäudes entsprach einem typisch italienischen Landhaus, wie man es aus den Filmen kannte: hohe Rundbogenfenster, die Fassade aus einem hellen Sandstein gebaut und das Obergeschoss mit einem dunklen erdfarbenen flachen Spitzdach versehen. Kleine Zypressen säumten eine Seite der Terasse und spendeten an den Tischen Schatten, an denen auf die üppigen weißen Sonnenschirme verzichtet wurde. Der perfekte Ort also, um spätabends in einen klaren Sternenhimmel zu blicken.
Stella und Dave schienen in dem Moment das Gleiche zu denken. Sie schmachteten sich verliebt an und seufzten hörbar. Single zu sein war in ihrer Gegenwart manchmal echt zum Abgewöhnen.
Gemeinsam schlenderten wir über den großzügigen Kieselsteinparkplatz auf den Eingang zu und ich beschäftigte mich gedanklich schonmal damit, welche Pizza in diesem Urlaub meine erste sein sollte, als ein weißes Sportcabrio auf den Parkplatz rauschte. Elegant fuhr es einen Bogen um uns herum und kam direkt neben dem Eingang zum Stehen.
Noch ehe ich wusste, was ich davon halten sollte, stieg ein sportlicher Typ aus dem Auto aus, ging einmal um das Heck herum und griff nach einem weißen Hemd. Mit einer flüssigen Bewegung zog er es über sein ebensoweißes T-Shirt und gab schließlich mit seiner hellen Jeans, braunen Schuhen und der reflektierenden Sonnenbrille einen sommerlich eleganten Look ab. Das leicht glänzende Hemd schmiegte sich dezent um seine breiten Schultern und seine dunkelbraunen Haare ließen Ansätze von Locken erkennen. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, ob ich eher Bewunderung oder Neid über seine stilsichere Dekadenz empfand, aber Faszination von seinem Auftritt war es allemal.
Mit federndem Gang zog er an uns vorbei, nickte grüßend und betrat das Restaurant.
Auf einmal schnipste Stella mit ihren Fingern vor meinem Gesicht. "Erde an Franka! Fertig mit Schmachten?" Sie grinste breit, packte mich am Handgelenk und zog mich mit sich zum Eingang des Restaurants.
"Ich habe doch gar nicht geschmachtet", empörte ich mich. "Jaja", winkte Stella ab. "Erzähl das, wem du willst."
Dave, der meinen Moment des Gaffens schonmal sinnvoll genutzt hatte, war vorausgegangen und hatte uns einen Tisch auf der Terasse reserviert. Wir folgten ihm nach draußen und fanden unter einem der riesigen Sonnenschirme Platz. Der Abend verlief entspannt. Wir aßen die beste Pizza, die wir kannten, tranken anschließend echt italienischen Espresso, der mit nichts auf der Welt zu vergleichen war und bald hatte ich den eleganten Sportwagentypen auch schon wieder vergessen.
Irgenwann packte Stella Dave am Arm und stand auf. "Kommt, lasst uns oben Cocktails trinken und Billiard spielen", rief sie aufgeregt und zog Dave bereits hinter sich her. Hilfesuchend blickte er sich nach mir um, aber ich musste nur lachen und hob die Schultern. Wenn Stella eine Idee hatte, dann war Widerstand zwecklos. Ich tippte noch schnell eine SMS an eine Freundin zuende und folgte dann den beiden zurück ins Restaurant.
Über eine breite Wendeltreppe mit flachen, großflächigen Stufen aus Sandstein erreichten wir die Bar und begaben uns an einen kleinen runden Tisch mit hohen Stühlen direkt am Fenster. Die Aussicht war atemberaubend. Als roter Feuerball ging gerade die Sonne am Horizont unter und versank im spiegelglatten Meer. Die Verlockung war groß, jetzt darin einzutauchen und die kleinen kreisrunden Wellen zu genießen, die meine Bewegungen verursachen würden.
Ich seufzte leise und hob das Smartphone, um wenigstens ansatzweise diese traumhafte Stimmung einfangen zu können. Ich merkte nicht, dass ich dabei unter aufmerksamer Beobachtung eines stahlgrauen Augenpaares stand...
Nachdem der Kellner uns die bestellten Cocktails gebracht hatte - Dave und Stella teilten sich eine riesige Bowl mit Marshmallows und Früchten, von denen man allein schon satt werden konnte und ich blieb erstmal bei einem Fruchtsecco -, unterhielten wir uns über die Fahrt hierher und unsere Planungen für den Urlaub.
"Ich hab aber keine Lust, das fünfte Rad am Wagen zu sein", maulte ich. "Ich komme auch wunderbar allein klar." Dave verschluckte sich fast an seinem Cocktail. "Auf keinen Fall! Wenn du unterwegs bist und dir was passiert, bin ich nicht schnell genug bei dir."
Stella legte beschwichtigend ihre Hand auf Daves Unterarm. "Dave, ernsthaft! Deine Schwester ist erwachsen. Sie wird sich zurechtfinden, vertrau ihr. Du kannst nicht alles auf den Unfall von damals reduzieren."
Dave seufzte und sah mich eindringlich an. "Es tut mir Leid, Franka, aber ich würde alles dafür tun, dass sich so etwas nicht wiederholt. Ich hab wirklich für einen Moment geglaubt, ich hätte dich verloren. Als dieser Idiot in die Beifahrerseite gekracht ist und ich dich aus dem Auto ziehen musste..."
"Hast du aber nicht", unterbrach ich ihn. "Ich verstehe, dass du Angst hast und auch ich werde diese Bilder noch nicht los. Aber es hilft mir nicht, wenn du rund um die Uhr über mich wachst. Wie soll ich dann mir selbst vertrauen?" Ich lächelte ihn tröstend an und versuchte, ruhig und gelassen zu wirken.
Tatsächlich überschlugen sich die Erinnerungen in meinem Kopf und brachten mein Herz zum Rasen. Ich würde für die Zukunft auch noch Strategien finden müssen, dass mich die Bilder von damals nicht mehr derart ängstigten. Aber weder Stella noch Dave wussten davon. SIe würden damit beide nicht umgehen können, davon war ich überzeugt.
Gedankenverloren rührte mein Bruder mit dem Strohhalm in der Bowl herum. Nach einer Weile nickte er entschlossen. "Du hast Recht. Habt ihr beide." Er warf uns abwechselnd einen Blick zu. "Ich vertraue dir, dass du vorsichtig ist, Franka. Vor allem, wenn ich nicht bei dir bin."
Ich nickte und wedelte mit meinem Smartphone vor seinem Gesicht herum. "Außerdem gibt es ja auch noch diese Dinger hier."
Stella grinste und klopfte mit der flachen Hand auf den Tisch. "Gut, wenn das nun geklärt ist..." Sie stand auf und zog Dave am Handgelenk mit sich hoch. "Dann können wir ja jetzt eine Runde Billiard spielen. Du hast mir Revanche versprochen, Schatz!"
Dave blickte mich hilfesuchend an, aber ich lachte nur und prostete ihm mit meinem halbvollen Secco zu. Stella würde ihn defintitiv fertigmachen!
Irgendwie war ich froh, für einen Moment eine Pause zu haben. Das Gespräch über die Ereignisse damals hatte mich mehr aufgewühlt, als mir lieb war. Plötzlich hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen - schon wieder. Alle Konzentration auf eine ruhige Atmung half nicht, mir wurde schwindlig und ich blickte mich panisch nach einer Möglichkeit um, auf die Terasse zu kommen.
Die stahlgrauen Augen verfolgten, wie ich hastig aufsprang und durch die Glastür nach draußen flüchtete.