2 Damals wie heute?
Melody seufzte, rieb sich die brennenden Augen und beschloss, sich die fünfte Tasse Kaffee aus der Küche zu holen. Das viel zu starke Gebräu würde ihr heute als Hauptnahrungsquelle dienen, ansonsten hatte sie keinen Plan, wie sie den Tag überstehen sollte. Sie goss sich den Becher voll, fügte eine eigentlich für sie viel zu geringe Menge Milch hinzu und warf noch drei Süßstofftabletten hinterher. So trank sie den Kaffee, wenn sie wütend war.
Teo war heute Morgen zu seiner Geschäftsreise nach Paris aufgebrochen. Um fünf Uhr morgens hatte er den Flug nehmen müssen, was ja an sich noch kein Problem darstellte. Seine Firma hatte ihm angeboten, die Taxifahrt zum Flughafen zu organisieren und die Kosten zu übernehmen, aber Teo hatte abgelehnt. Er hatte darauf bestanden, dass seine Frau ihn mit dem Privatwagen morgens um drei die sechzig Kilometer zum Flughafen brachte. Schließlich würde er für vier Wochen unterwegs sein, da müsse es ihr doch auch ein Herzensanliegen sein, die letzten Minuten mit ihm zu verbringen. Da die letzten Tage bereits emotional sehr anstrengend gewesen waren, hatte sich Melody darauf eingelassen, um weitere aufreibende Diskussionen zu vermeiden.
Das Ergebnis der Aktion war allerdings, dass sie nun völlig übermüdet war und sie sich nicht auf ihre Studienarbeiten konzentrieren konnte. Fluchend kehrte sie ins Wohnzimmer an ihren Laptop zurück, notierte sich noch ein paar Stichpunkte auf dem danebenliegenden Collegeblock und drückte dann energisch das Gerät zu.
Schluss für heute! Dieser Arbeitstag war für sie einfach gelaufen.
Fluchend schlurfte sie mit Kaffeebecher und Smartphone rüber zur Couch und schaltete den Fernseher ein. So wirklich schaute sie nicht hin, was da gerade lief, aber darum ging es auch nicht. Hauptsache, sie betäubte erstmal die Stimme in ihrem Kopf, die laufend versuchte, ihr etwas mitzuteilen, worüber sie sich jetzt aber keinesfalls Gedanken machen wollte. Dinge, die möglicherweise unbequeme Wahrheiten darstellten, für die Melody aber jetzt keine Kraft aufbrachte.
Sie entsperrte ihr Handy und öffnete den Chat mit ihrer Freundin Eda. Sie schrieben sich täglich und hielten sich gegenseitig über den neuesten Tratsch oder aber auch den Fortschritt ihrer Masterarbeiten auf dem Laufenden. Melody genoss es, dass sie fließend zwischen Deep Talk und Quatsch hin- und herwechseln konnten.
Melody, 13:04 Uhr
Kaffee im Tiempo um 2? Brauche mal 'ne Pause...
Eda, 13:05 Uhr
Gute Idee, hänge auch gerade fest.
CU xoxo
Na also, genau das brauchte sie jetzt. Eine gemütliche Umgebung mit dem Duft von Kaffee und Gebäck und eine ihrer besten Freundinnen, mit der sie über wirklich alles quatschen konnte. Sie sprang unter die Dusche, bemühte danach noch Mascara und Lippenstift und verließ in Mantel, Schal und Mütze gekuschelt die Wohnung.
Das Café Tiempo, in welchem die beiden Freundinnen sich regelmäßig trafen, lag mitten in der Stadt direkt neben einer Bushaltestelle. Wie oft sie sich hier schon einen Coffee to go genehmigt hatte, während der Bus mal wieder auf sich warten ließ, konnte Melody inzwischen schon gar nicht mehr zählen. Jedenfalls hatte sie den Umsatz des Ladens drastisch erhöht, seit sie in der Universität eingeschrieben war.
Eda hatte sich bereits eine gemütliche Eckbank mit kleinem Tisch geschnappt und winkte, als Melody sich mühsam durch die schwere Flügeltür aus Glas kämpfte. Sofort schwebte ihr der heißgeliebte Duft von frischen Brötchen, süßen Teilchenfüllungen und Kaffeespezialitäten entgegen, mit dem sie die oft benötigte Wohlfühlatmosphäre verband. Immer, wenn sie Zeit für sich brauchte, um nachzudenken oder manchmal auch außerhalb der Internetanbindung der Uni zu arbeiten, dann kam sie hierher. Ernsthaft, sie musste mal mit dem Geschäftsführer hier eine Kaffeeflatrate oder sowas aushandeln.
"Ich habe uns schonmal Cappuccino bestellt", verkündete Eda, als Melody Mantel und Schal in die hintere Ecke knautschte und sich dann auf die Bank schob.
"Sehr gut", erwiderte sie und nickte anerkennend. Dann schob sie ihrer Freundin einen USB-Stick über den Tisch zu. "Schau mal, ich habe das letzte Kapitel meiner Arbeit entworfen. Wenn das für dich so Sinn macht, dann brauche ich nur noch das Abschlussresümée zu schreiben. Ich hätte beim besten Willen nicht damit gerechnet, dass ich wirklich den Abgabetermin einhalten kann."
"Uh", machte Eda freudig überrascht und klatschte leise. "Das freut mich wirklich für dich. Ich schau es mir gleich heute Abend an." Sie nahm den Stick an sich, öffnete ihren Geldbeutel und warf ihn zu ihrem Münzgeld. "Ich bin noch nicht so weit. Aber die erste grobe Literaturrecherche habe ich jetzt abgeschlossen", berichtete sie.
Melody winkte ab. "Du hast ja auch noch ewig Zeit. Du hast deine Arbeit schließlich viel später angemeldet. Also stress dich mal nicht." Eda nickte und nahm ihren Arm vom Tisch, als die freundliche Bedienung uns unsere Cappuccini mit dem leckeren kleinen Mandelkeks dazu brachte. Ich stürzte mich darauf, als sei ich süchtig danach und ließ den ersten warmen Schluck mit cremigem Milchschaum auf der Zunge zergehen.
Kaffeeflatrate. Unbedingt.
Eda legte den Kopf schief, als Melody eine Weile wortlos in ihre Tasse starrte und gedankenverloren mit zwei Fingern am Henkel spielte. "Alles klar bei dir?", fragte sie und legte eine Hand auf Melodys.
"Ja, alles gut", erwiderte sie eilig und lächelte, was allerdings eher gezwungen als echt wirkte. Eda beließ es dabei. Sie vertraute ihrer Freundin, dass sie sich ihr öffnete, wenn sie es brauchte und dann würde sie für sie da sein. Sie hatte eine Ahnung, was in Melody vorging und dass es mit Teo zu tun haben musste, aber sie würde nichts erreichen, wenn sie sie bedrängte. Jegliche Erkenntnisse, welche es auch immer sein mochten, musste sie zu ihrer Zeit für sich gewinnen. Die kurz bevorstehende Abgabefrist der Abschlussarbeit war nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, sich Gedanken über das Leben und die Beziehung zu machen, das war Eda klar.
In dem Moment kramte Melody den Umschlag aus ihrer Tasche, den sie vor ein paar Tagen aus England erhalten hatte, und reichte ihn über den Tisch. "Schau dir das an", begann sie voller Euphorie. "Ich werde dieses Jahr wunderbare Weihnachten haben. Und dann ist es mir auch egal, dass Teo in Paris ist. Zuerst habe ich mich ja geärgert, dass er diese Reise über die Feiertage antreten musste, aber im Nachgang glaube ich fast, dass es so sein musste."
Eda nahm den Umschlag entgegen, öffnete ihn neugierig und las die Einladung.
"Ach, warte mal. Soraya..." Sie lenkte ihren Blick in eine obere Ecke des Cafés und dachte angestrengt nach. "Von der hast du mir erzählt. Du hast sie doch mal für ein paar Tage besucht, nicht?"
Melody nickte und steckte die Einladung wieder ein. "Ja. Das ist mittlerweile mehr als zwei Jahre her. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, weil ich sie immer wieder aus den verschiedensten Gründen vertröstet habe. Das ist inzwischen schon die dritte Weihnachtseinladung. Jetzt setze ich alles daran, um hinzufahren."
Eda nickte zustimmend. "Das halte ich für eine sehr gute Idee. Nach der harten Arbeit hast du dir ein paar schöne Tage wirklich verdient. Und meiner Meinung nach brauchst du mal eine Auszeit... allein."
Melody irritierte Edas fast schon grimmiger Blick und beschloss, sie darauf anzusprechen. "Was meinst du, Eda? Warum sagst du das so?"
Eda seufzte. Eigentlich wollte sie das Thema ja gar nicht anschneiden, aber offensichtlich verlangte Melody ihre Offenheit. Nun gut, dafür waren sie schließlich Freundinnen.
"Melody, ich finde nicht gut, wie Teo mit dir umgeht. Ich weiß, dass dir viel an ihm liegt, aber das gibt ihm noch lange nicht das Recht, mit dir umzuspringen, wie es ihm gerade passt."
Melody senkte den Blick und schüttelte den Kopf. Nach ein paar Sekunden sah sie wieder auf und hob die Schultern. "Er hat eben viel Stress auf der Arbeit und möchte sich dann zuhause entspannen, das kann man doch verstehen."
Eda rührte heftig in ihrem Cappuccino, ehe sie reagierte. "Du versuchst, dir das schönzureden, und das weißt du auch. Du bist nicht glücklich mit Teo, aber du traust dich nicht, ihm das zu sagen und entsprechende Entscheidungen zu treffen... Was auch vorerst völlig in Ordnung ist", warf sie schnell ein, als Melody den Mund öffnete, um etwas zu sagen. "Du musst dich jetzt erstmal auf deinen
Abschluss konzentrieren. Aber danach solltest du dir Gedanken machen, was du dir Wert bist und wie du behandelt werden möchtest. In meinen Augen weiß Teo das nämlich nicht zu schätzen. Er bremst dich aus und belastet dich. Die Frage ist, wie lange du das noch hinnehmen möchtest."
Melody sagte erst einmal gar nichts und wischte sich mit dem Ärmel eine Träne ab. Sie fand es sehr berührend, dass Eda sie so schätzte und ihr so viel daran lag, dass es ihr gutging. Im Prinzip wusste sie auch, dass sie Recht hatte und dass sie sich über ihre Zukunft klarwerden musste. Für die Feiertage nach London zu reisen, war dafür ideal und vielleicht notwendiger denn je. Sie nickte und lächelte ihre Freundin dieses Mal ehrlich an.
"Danke, dass du das gesagt hast. Ich weiß, dass dir das nicht leicht gefallen ist."
"Um mich geht es hier nicht", entgegnete Eda. "Es geht darum, dass wir uns jetzt verdammt noch mal überlegen, welche Klamotten du mit nach England nimmst und welches Make Up du tragen wirst." Sie grinste und steckte mit dem plötzlichen Themenwechsel Melodys gute Laune an. "Wirst du auf Hardon Abbey jemandem begegnen?"
Melody leerte ihren Cappuccino und nutzte die Gelegenheit, einen Latte Macchiato mit Karamellsirup zu bestellen, als die Bedienung an ihrem Tisch vorbeizog, um einen anderen Platz für neue Gäste herzurichten. "Ja, Soraya und Jan natürlich."
Eda schüttelte heftig den Kopf, sodass ihr der blonde Pferdeschwanz um die Ohren flog. "Du weißt, was ich meine. Komm schon, du bist verheiratet, aber nicht tot. Flirten ist erlaubt. Dir sowieso", grummelte sie noch hinterher und erntete einen schiefen Blick von Melody.
"Du sagst nichts", stellte Eda fest. "Es gibt also jemanden? So, Mädchen, Karten auf den Tisch. Erzähl mir alles! Wer, wann und wo?"
Bei der Erinnerung an damals lächelte Melody und ihr wurde warm ums Herz.
"Ich weiß nicht, ob er da sein wird, aber die Möglichkeit besteht durchaus", begann sie. "Es geht um Jaris, und ich habe ihn das letzte Mal gesehen, als ich damals Soraya besucht habe."
Eda grinste übertrieben, verschränkte ihre Hände ineinander und stützte den Kopf darauf. Sie hatte nicht die geringste Absicht, es dabei zu belassen. "Habt ihr noch Kontakt?", bohrte sie weiter.
"Nein, seit damals nicht mehr. Ich wusste nicht, was ich ihm schreiben sollte und ich vermute, dass es ihm auch so ging."
Der Latte Macchiato kam und Eda musste erneut den Tisch freigeben. "Hättest du es denn gerne?"
"Ich weiß nicht", antwortete Melody und tauchte ihren Mandelkeks in den steifen Milchschaum. "Ich müsste es verheimlichen, weil Teo nicht damit klarkommt, wenn ich männliche Freunde habe. Und ich weiß auch nicht, ob ich Jaris einfach als Freund bezeichnen kann."
Jetzt hatte Eda erst recht Feuer gefangen. "Wieso? War damals was?"
Melody wog abwägend den Kopf hin und her. "Nicht direkt", entgegnete sie wahrheitsgemäß. "Wir hätten uns fast geküsst."
Eda quietschte überdreht und fing sich neugierige Blicke der anderen Gäste ein. "Warum nur fast?" Ihre Neugier brachte sie sicherlich bald um.
"Ich konnte nicht, weil ich doch verheiratet bin. Ich hatte Angst, dass ich mit Fremdknutschen nicht zurechtkomme, auch wenn ich mir damals sicher war, dass wir uns vorerst nicht wiedersehen würden."
"Und jetzt haben wir zwei Jahre danach", kommentierte Eda. "Wie denkst du jetzt darüber?"
Melody hob erneut die Schultern und blickte aus dem Fenster hinaus auf die belebte Einkaufsstraße, über die Menschen mit den ersten Weihnachtseinkäufen hetzten.
"Gar nicht, weil es keine Relevanz hat. Es ist lange her und es ist inzwischen viel passiert. Er pflegt jetzt auch nicht die engste Freundschaft zu Soraya und Jan. Höchstwahrscheinlich ist er also gar nicht da."
Eda sprang auf, schnappte sich Melodys halbvollen Latte Macchiato und zog ihn leer. "Aber wenn er es doch sein sollte, musst du vorbereitet sein." Eda bezahlte die Bedienung, die gerade an uns vorbeikam und bedachte sie mit einem großzügigen Trinkgeld. Dass wir sie noch nicht mit Namen kannten, war eins - so oft, wie sie uns hier bediente und immer freundlich zu uns war.
"Komm", befahl Eda und bewarf mich mit Mantel und Schal. "Wir gehen jetzt shoppen!"