13 Filmreif
Am nächsten Morgen schlug ich früher als gewohnt die Augen auf und hörte dem gleichmäßigen Rauschen des sanften Sommerregens zu, der leise auf mein Zelt tröpfelte. Einzelne kleine Wasserperlen kullerten die semitransparenten Zeltwände hinab und hinterließen auf ihrem Weg nach unten feine winzige Spuren. Ich kuschelte mich tiefer in meinen Schlafsack und genoss eine Weile die meditative Stimmung, ehe das Gedankenkarussell seine Fahrt aufnahm.
Die rote Klapperkiste hatte gestern Abend direkt vor dem Seiteneingang des Restaurants geparkt. Angelo wollte seinen Freunden noch beim Ausladen der Melonen helfen und hatte mich gefragt, ob ich von hier aus allein den Weg finden würde. Ich war tatsächlich froh gewesen, noch ein paar Minuten für mich zu haben, ehe ich Stella und Dave unter die Augen treten müsste. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie bereits schliefen, aber vermutlich forderte Stellas Verletzung ihren Tribut ein.
Die Verabschiedung am Auto gestaltete sich unangenehm befremdlich. Wir wussten beide irgendwie nicht, wie wir uns verhalten sollten und was wir bereit waren, vor den anderen Jungs preiszugeben. Also bedankte ich mich lediglich artig für den schönen Tag und bei uns beiden reichte der Mut jeweils für eine Umarmung und einen Kuss auf die Wange. Danach hatte ich schnell die Flucht ergriffen.
Jetzt lag ich hier und rätselte herum, welche Bedeutung dem Kuss unterm Olivenbaum zukommen musste. War er einfach aus der Situation heraus entstanden, weil er mich über meine Wut und Traurigkeit hinwegtrösten sollte? Oder trug er sowas wie ein Geständnis in sich, eine Offenbarung, dass ich doch mehr in Angelo ausgelöst hatte als nur die Lust auf einen romantischen Urlaubsflirt? Bevor ich mir aber über den italienischen Melonenengel vom Land den Kopf zerbrach, sollte ich mir erstmal darüber klarwerden, was ich mit dem Kuss anstellen würde. Meine innere Stimme flüsterte mir, dass ich das jetzt noch gar nicht definieren konnte. Dafür standen noch zu viele Unklarheiten im Raum wie beispielsweise die wildgewordenen Schmetterlinge, die Dion bei mir provozierte. Ehe ich also mein Gefühl gegenüber Angelo in eine bestimmte Schublade packen konnte, musste ich zunächst mehr über die Begegnungen mit Dion in Erfahrung bringen. Wie gut, dass er mir ja noch eine Einladung schuldig geblieben war.
Als jemand von außen den Reißverschluss meiner Zelttür aufzog, war ich hellwach, krabbelte aus dem Schlafsack und zog das Fliegengitter auf, was die schmale Luftmatratze umgab. Stellas Kopf erschien und hatte ein breites Grinsen im Gesicht.
"Guten Morgen! Kaffee?" Sie schob mühsam ächzend eine dampfende Tasse durch den Reißverschluss, den sie wohl mit den Zähnen aufgezogen haben musste. In beiden Händen hielt sie eine Tasse.
"Um Himmels Willen, sag doch was", schimpfte ich mit ihr und zog die Tür nun komplett auf, um ihr die Tassen abzunehmen. Eine Minute später saßen wir mit kuscheligen Socken an den Füßen im Schneidersitz auf Kissen und pusteten auf unser Heißgetränk. Stella war ein Engel. Genau das brauchte ich jetzt. Mädelszeit!
"Dann erzähl mal! Von Anfang an. Wehe, du lässt auch nur ein winziges Detail aus." Stella hob drohend den Finger und blickte mich dann erwartungsvoll mit ihren riesigen grünen Unschuldsaugen an. Also erzählte ich. Ich beschrieb die furchteinflößende Blechbüchse und die Ereignisse, die sich am Ausläufer des Taro zugetragen hatten. Zuerst war Stella schockiert, dann aber setzte sie einen romantisch verträumten Blick auf.
"Lass mich raten: Dann hat er dich liebevoll in dramatischer Rettungsaktion zum Wasser hinuntergetragen, weil du in deiner Not ohnmächtig geworden warst." Sie machte zu ihren Ausführungen eine fingergespreizte Bewegung vor ihrem Gesicht, als würde ein Film am Zeltdach ablaufen.
"Du spinnst doch", lachte ich. "Nein, das habe ich noch selbst geschafft." Stella grummelte enttäuscht, nippte an ihrem Kaffee und wartete auf die Fortsetzung der Geschichte. Ich erzählte, wie die Mamma uns empfangen und was sie für uns gekocht hatte. Schließlich beschrieb ich die Pferde, den Ausritt zum Olivenbaum und meine Erinnerungen an Paul. "Und dann hat Angelo mich geküsst", endete ich.
Stella verschluckte sich mit aufgerissenen Augen an ihrem Kaffee. "Dich geküsst? Wie denn? Leidenschaftlich, heiß und sexy? Wollte er mehr?" In Gedanken konnte ich Block und Bleistift wie bei einem Reporter in ihren Händen sehen und musste innerlich über dieses Bild lachen. Doch ich beherrschte mich.
"Nein, mehr wollte er nicht. Aber er war ganz sanft und zärtlich und ja, auf eine gewisse Weise war das schon sexy", gestand ich.
"Würdest du es wieder tun?", wollte Stella wissen und stellte ihre leere Kaffeetasse beiseite.
"Ja, unbedingt", bestätigte ich. "Ich würde nämlich gerne wissen, was der Kuss zu bedeuten hatte und ob er weiter gehen würde, wenn die Gelegenheit passt. Ich kann das alles so noch nicht einordnen." Stella nahm meine freie Hand in ihre beiden. "Kannst du dir Sex mit ihm vorstellen? Ich meine, seit Paul dich verlassen hat... Und überhaupt nach dem Unfall bist du keinem Mann mehr so nahegekommen wie jetzt."
Ich dachte ein paar Sekunden darüber nach und versuchte mir auszumalen, wie Angelo mich wohl berühren würde. Und ob ich das Verlangen hätte, auch seine Haut unter meinen Händen zu spüren. Wie und wo er mich überall küssen würde. Am Hals, am Bauch, an...
"Ich weiß es nicht, Stella. Nach Paul ist sehr viel in mir kaputtgegangen. Ich habe lange niemandem mehr so vertraut wie Angelo. Aber ich will auch nichts überstürzen, wenn ich mich nicht gut dabei fühle, weißt du?"
Stella nickte verständnisvoll, nahm mir meine Tasse aus der Hand und zog mich dann in eine herrlich tröstende, feste Umarmung. "Und das ist auch genau richtig so, Süße. Höre auf dich und was dein Gefühl dir sagt. Nur du kannst entscheiden, wann, wo und mit wem es soweit ist." Sie wiegte mich noch kurz ein bisschen, ehe sie mich losließ und mir meinen Kaffee wieder in die Hand drückte. "Aber eins musst du mir versprechen", forderte sie ein. "Wenn es passiert, will ich alles wissen."
"Versprochen", schwor ich und leerte meine Tasse, in der sich inzwischen Eiskaffee befand.
Als Dave sich endlich an der frischen Luft blicken ließ, beschlossen wir, heute im Café zu frühstücken. Bei dem regnerischen Wetter machte es dann doch nicht so viel Spaß, sich im Zelt zu dritt um einen winzigen Tisch herumzukauern und am laufenden Band Kaffeetassen und Marmeladengläser umzuwerfen. Außerdem blieb mir auf diese Weise das Aufspülen erspart, was ja bekanntlich nicht meine Lieblingstätigkeit war.
Mit Regenschirmen und Gummistiefeln bewaffnet trotteten wir nach vorne zum Haupteingang, wo wir schon an unserem ersten Urlaubsabend gegessen hatten. Jeden Morgen wurde dort ein üppiges Frühstücksbuffett serviert, welches gesondert auf die Gesamtrechnung aufgenommen wurde, wenn man sich daran bediente. Von Kaffeespezialitäten und frisch gepresstem Orangensaft bis hin zu französischen Croissants, Müsli, Joghurt und englischem Frühstück gab es alles, was das Herz begehrte.
Wir kosteten das großzügige Angebot voll aus und ließen uns viel Zeit zum Schlemmen und Unterhalten. Schließlich sanken wir mit vollen Bäuchen und langsam einsetzendem Fresskoma etwas tiefer in unsere gepolsterten Rattansessel und nippten an unseren Cappuccini. Ich fühlte mich großartig! Dieser Vormittag gestaltete sich wie Urlaub vom Urlaub.
Plötzlich traute ich meinen Augen nicht, mir gefror das Blut in den Adern und meine Hände begannen zu zittern.
"Franka?", sprach Dave mich an und erntete von mir lediglich ein abwesendes "Hm?". Ich bemerkte nicht, wie sich langsam der Cappuccino in meiner schwankenden Tasse selbstständig machte und über meine Finger lief, sondern starrte immernoch in Richtung Tür. Während Dave mir schnell die heiße Tasse abnahm und mit der Serviette meine Hände trocknete, drehte Stella sich um und folgte meinem Blick. Sie schaltete sofort. "Ist sie das?", zischte sie leise und die Verachtung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Ich nickte mechanisch und versuchte mich aufs Atmen zu konzentrieren.
Die arrogante Frau aus dem Badehaus... Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, sie wiederzusehen. Schon gar nicht hier. Und erst recht nicht an Dions Seite! Er sah wie immer verboten gut aus in seinem weißen, leicht glänzenden Hemd mit aufgeschlagenen Ärmeln, dazu eine schwarze Hose und braune Schuhe aus weichem Leder, die zum Gürtel passen. In seinen Lockenansätzen versteckte sich zur Hälfte eine reflektierende Sonnenbrille. Und sie hatte sich bei ihm eingehakt. Sie.
Heute hatte sie ihr schwarzes Haar in einen hohen Zopf gepresst und trug ein knielanges hautenges Kleid in stechendem Rot. Zunächst betete ich, dass sie mich nicht erkannte, aber sie war viel zu beschäftigt damit, Dion anzuschmachten und ihm mit ihrem künstlich wirkenden Lachen zu imponieren. Sie setzten sich in die Nähe des Eingangs, wo die vom Regen abgekühlte Luft hereinwehte und bestellten sich eine Flasche Champagner. Die Frau holte ein Dossier aus ihrer großen Schultertasche, die sie neben sich abgestellt hatte, schlug es auf und zusammen beugten sie sich über die Papiere. Als der Champus kam, stießen sie mit ihren Gläsern an und ich vermutete, dass es sich dabei um irgendeinen lukrativen Geschäftsabschluss handelte.
Auch wenn ich Dion noch nicht gut kannte und wenig einschätzen konnte, aber am wenigsten hätte ich ihm zugetraut, dass er Geschäfte mit solchen Personen machte. Keine Ahnung, warum, aber ich hatte ihm unterstellt, dass ihm in Kontakt mit anderen Loyalität und Respekt wichtig waren. Offenbar hatte ich mich getäuscht. Auch wenn es mir peinlich war, presste es mir die Tränen in die Augen und ich kämpfte darum, die Fassung zu behalten. Was sollte der Quatsch? Ich kannte ihn kaum und er bedeutete mir nichts. Also nichts wie raus hier und dann war das Thema auch für mich erledigt!
"Was macht die denn hier? Der werde ich jetzt mal meine Meinung geigen", schimpfte Stella gerade und machte Anstalten, aufzustehen.
"Nein, nicht!" Ich ergriff sie am Handgelenk und hielt sie am Platz. Wenn Stella einmal wütend war, dann konnte sie mehr Schaden anrichten als eine Kalaschnikow. "Lass uns einfach gehen und nicht noch unnötig ein Fass aufmachen, ja?"
Stella bemerkte, dass meine Hand an ihrem Handgelenk noch immer zittrig war und mein Griff schwächer wurde. Aufmerksam blickte sie mir zuerst in die Augen, dann scannte sie mich von oben nach unten ab und setzte das Puzzle in ihrem Kopf zusammen. Sie warf Dave, der inzwischen das Cappuccinomaleur erfolgreich beseitigt hatte, einen vielsagenden, fast schon scharfen Blick zu. "Schatz, wir gehen. Jetzt!" Er nickte, kam zu mir und drehte meinen Sessel, damit ich zügig aufstehen konnte.
Erneut entging mir das sehr aufmerksame stahlgraue Augenpaar, welches mich keine Sekunde aus den Augen ließ, und in das sich zum ersten Mal aufrichtige Sorge mischte.
Während wir nach draußen huschten, wendete ich meinen Blick von den beiden ab, damit zumindest die Frau mich nicht erkannte. Ich ging nicht davon aus, dass sie mich das letzte Mal so aufmerksam betrachtet hatte, dass sie mich am Hinterkopf erkennen würde. Ich hätte mal besser darauf geachtet, wo ich hintrat, denn genau auf Höhe von Dion und seiner uncharmanten Begleitung blieb mein Fuß an etwas hängen. Mit einem erschrockenen, viel zu lauten Schrei platschte ich schließlich bäuchlings auf die abgeschliffenen Natursteinfliesen.
Der Aufprall war viel zu laut, als dass meine Ohren ihn ertrugen. Dieses ekelhafte metallische Geräusch war nicht dafür gemacht, dass ein Mensch sich daran gewöhnen sollte. Es klang fürchterlich falsch, ungewollt und gefährlich. Dann ging dieser entsetzliche Ruck durch mich hindurch, gefolgt von diesen rasenden Schmerzen. Fühlte es sich so an, wenn der Kopf explodierte? Wenn der Körper sich in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen schien? Wenn Bruchteile von Sekunden sich zu einer endlosen Ewigkeit zogen und die mich überfallende bleiernde Müdigkeit die süße Erlösung ins Nichts zu sein schienen. Ja, wenn ich ihr nun nachgab, dann würde sich die tiefe, ersehnte Ruhe in mir breitmachen, die augenblicklich alles war, was ich mir in dieser Welt noch ersehnte...
"Franka, verdammte Scheiße!" Offensichtlich war mir die Ruhe nicht vergönnt und mein Bruder verlor die Nerven. Wunderbar, genau das brauchte ich jetzt! Sarkasmus Ende.
"Dave, Schatz, lass ihr ein bisschen Platz. Sie bekommt ja sonst gar keine Luft." Stella! Ich könnte sie mal wieder dafür knutschen, dass sie meinen Bruder in Schach hielt. Aber Moment mal, warum war sie im Auto? Dave und ich waren doch allein losgefahren. Und wie konnte sie nach dem krassen Aufprall noch unverletzt sein? Warum prasselte der Regen nicht in mein Gesicht durch das Seitenfenster, dessen Glas in hunderttausend Einzelteile gesprungen war? Wo blieben die unerträglich nervtötenden Sirenen, die mich einfach nicht einschlafen ließen und das Gewirr an kurzen professionell anmutenden Informationen und Befehlen von komisch in rot gekleideten Menschen? Warum saß ich nicht eingeklemmt in den aufgerissenen Sitzpolstern im Wagen meines Bruders?
Was zur Hölle war denn hier los?
Ich schlug die Augen auf und erkannte als erstes den Grund, warum ich mich auf die Nase gelegt hatte: ein abstehender Riemen an der blöden Schultertasche der Glätteisentussi.
"Na, da ist sie ja schon wieder", hörte ich Dions Stimme ganz nah neben mir. Ich kniff die Augen zusammen und hob ein wenig den Kopf, bis ich ihn schließlich in der Hocke direkt neben meinem Oberkörper ausmachen konnte. Ernsthaft, warum hatte er nicht mit seinem sexy Kadaver einfach auf der Bank sitzen bleiben und mich ignorieren können?!
"Wiesoooooooooo", entfuhr es mir verzweifelt und ich legte mich wieder hin in der Hoffnung, dass sich in diesem Moment der Boden zum Versinken auftat. Aber Dion lachte nur leise, ergriff meine Schultern und zog mich scheinbar mühelos in eine sitzende Position.
Oh, mein Kopf brummte ganz schön. Ich stöhnte leise und drückte mir mit den Fingerspitzen auf die schmerzende Schläfe. Dion nahm mein Gesicht in beide Hände, strich mir die Haare aus dem Gesicht und sah mich eindringlich an. "Augen aufmachen, kleiner Tollpatsch! Komm, sieh mich an", forderte er mich ganz leise, fast schon geheimnisvoll auf und ich konnte nicht anders, als seiner Bitte zu folgen.
Seine Augen sendeten Blitze aus, die mich im Innersten meiner Seele trafen. Nein, ich kannte diesen Mann nicht, aber es fühlte sich so an, als wäre er der einzige, der mich auf dieser Welt richtig verstand, ohne dass ich auch nur ein Wort sagte. Als kannte er meine Gedanken schon, noch bevor ich sie überhaupt dachte. Eigentlich sollte mir diese Verletzlichkeit unheimlich sein und mir Angst machen, aber genau das Gegenteil war der Fall. Ich hatte nicht den geringsten Schimmer, warum, aber jetzt in diesem Moment würde ich Dion ohne zu zögern mein Leben anvertrauen.
Dave unterbrach die knisternde Spannung zwischen uns, indem er mir unvermittelt ein Glas Wasser in die Hand drückte. "Hier, trink das! Alles in Ordnung?" Ich nickte nur und nahm ein paar Schlucke. War eine gute Idee gewesen, das half wirklich. Mit Hilfe der Männer richtete ich mich auf und setzte mich neben Dion auf die Bank, der zuvor reingerutscht war.
"Was für ein unnötiges Drama", flötete auf einmal die schwarzhaarige Badehausbarbie. "Können wir jetzt in Ruhe unseren Champagner genießen oder gibt es noch einen weiteren filmreifen Auftritt?"
Dion würdigte sie keines Blickes, sondern wandte sich an meinen Bruder und Stella, während er scheinbar selbstverständlich sanft meine Handgelenke massierte. Keine Ahnung, warum, aber irgendwie hatte das eine sehr entspannende Wirkung auf mich.
"Warum wolltet ihr auf einmal so schnell verschwinden?", erkundigte er sich. Stella und Dave tauschten stumm vielsagende Blicke aus und schienen zu überlegen, ob es klug wäre, die Wahrheit zu sagen. Schließlich presste Stella ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und ich wusste, dass nun die Bombe hochgehen würde.
"Wegen ihr", zischte sie und deutete mit einer kantigen Kopfbewegung auf die uncharmante Begleitung. Dion hob skeptisch eine Augenbraue. "Ach, ihr kennt euch?" Die Frau öffnete den Mund, um etwas zu sagen, endete aber wie ein schwarzhaariger Fisch, da Stella ihr zuvorkam. "Wir nicht, aber Franka. Sie sind sich im Badehaus begegnet und ehrlich gesagt schien das kein Vergnügen gewesen zu sein."
Dion sah nun mich an und studierte mein Gesicht, erntete aber lediglich einen hilfesuchenden und entschuldigenden Blick. Von mir würde er nichts erfahren! Ich hatte nach der Stolperaktion gerade nicht auch noch die Nerven, mich in einen Tussikrieg zu begeben.
Er lehnte sich vor und streckte seinen linken Arm vor mir über den Tisch. Ob er das bewusst tat, konnte ich nicht sagen, aber es wirkte, als wolle er mich vor der Frau schützen. "Serafina, was war da los?"
Wunderbar, jetzt hatte die wandelnde Make-Up-Werbung auch wenigstens mal einen Namen!
"Pffff", machte sie nur, verschränkte die Arme vor der Brust und wandte ihren Blick kopfschüttelnd ab.
"Antworte!", verlangte Dion nun so scharf, dass ich zusammenzuckte. Auch Serafina starrte ihn ungläubig an, schluckte und schien einen Moment zu überlegen. Dann setzte sie ein schuldbewusstes Gesicht auf und blickte mit halbgeschlossenen Lidern durch ihre künstlichen Wimpern hindurch zu uns herüber. "Es tut mir Leid, es war ein Missverständnis", lenkte sie ein. "Ich habe sie fälschlicherweise für das Reinigungspersonal gehalten und war nicht sehr höflich zu ihr. Aber das musst du doch verstehen. Du hast mich an dem Tag rausgeschmissen. Ich war außer mir!"
Dion schüttelte den Kopf. "Nein, muss ich nicht. Du weißt, warum du rausgeflogen bist. Aber du willst es einfach nicht begreifen, was diese Situation erneut zeigt."
Serafina goss sich Champagner nach und trank sofort die Flöte wieder halb leer. "Du tust mir Unrecht, Dion. Ich denke doch nur an dich... an uns. Das kannst du doch unmöglich Ernst meinen."
Ich hatte zwar keine Ahnung, worüber die beiden genau sprachen, aber es interessierte mich auch nicht. Die ganze Situation wurde mir unangenehm und ich fühlte mich inzwischen wirklich fehl am Platz. Als ich Anstalten machte, von Dion wegzurücken, um aufzustehen, ergriff er meine Hand und hielt mich bei sich. "Ich verlange, dass du dich bei Franka für dein Verhalten entschuldigst."
Serafina legte verwundert ihre gebotoxte Stirn in Falten, sofern ihren Gesichtsmuskeln das noch möglich war. "Wie bitte? Ich entschuldige mich niemals, das weißt du doch."
Daraufhin schob Dion Serafina das Dossier wieder zu, welches sie zuvor auf den Tisch gelegt hatte. "Dann sind wir hier fertig!" Er sah sie noch einen kurzen Augenblick lang erwartungsvoll und auffordernd an, als würde er ihr eine letzte Chance geben.
Sie schien sich der Konsequenzen bewusst zu werden, denn sie seufzte tief und bemühte sich, die schreiende Verachtung aus ihrem Gesicht zu löschen. Erbärmlicher Versuch!
"Ich kann nicht glauben, dass du das von mir verlangst. Aber bitte, wenn du es so willst... Liebe Franka, es tut mir aufrichtig Leid. Es wird nicht wieder vorkommen."
Ich kaufte ihr nicht eine einzige Silbe von dem ab, was sie gesagt hatte. Also nickte ich lediglich höflich und ließ sie in dem Glauben, dass ich ihre gespielte Entschuldigung akzeptierte. Aber sämtliche Alarmglocken klingelten in mir Sturm und ein Blick auf meinen Bruder und Stella zeigte mir, dass wir alle das Gleiche dachten: Das war noch nicht vorbei!