12 Einzigartig
Nur wenige Augenblicke später vergrub ich mein Gesicht im schwarzen Fell des mächtigen Wallachs, der zufrieden und zwischendurch leise schnaubend einzelne Halme aus seinem Heunetz zupfte. Der typische Pferdeduft, der auch von diesem Tier ausging, wirkte wie Beruhigungsmittel auf mich - definitiv mit hoher Suchtgefahr. Sanft streichelte ich an seinem kräftigen Hals entlang und fühlte die winzigen Regungen seiner Muskeln, während er rhythmisch und systematisch mit seinen Zähnen mahlte. Ich wünschte, die Zeit würde stehenbleiben. Hier an diesem Ort, ganz nah bei so einem edlen Geschöpf wie diesem, schienen sich all meine Sorgen in Luft aufzulösen. Ich drückte dem braven Koloss einen liebevollen Kuss ins Fell und wischte unauffällig eine Träne der Rührung darin ab. Er dankte es mir, indem er vielsagend seine Schweifrübe anhob und entspannt eine beeindruckende Menge Pferdeäpfel fallenließ.
Gut, damit war der filmreif romantische Moment vorbei und ich verließ mit peinlich berührtem Gesichtsausdruck die große Box. Angelo hielt sich den Bauch vor Lachen und bot dem Wallach einen Pferdekeks an, den er sogleich gierig verschlang. Bis er sich wieder einkriegte, sah ich mich in der kleinen Scheune um, die hier zwei Pferden ein Zuhause bot.
Das zweiflügelige Tor hatte uns direkt auf eine mit Ziegelsteinen gepflasterte Gasse geführt, die weiter hinten an einem kleinen Raum mit einer Holztür endete. Darin verbargen sich vermutlich Futtermittel und Sattelzeug für die Tiere. Die gesamte linke Hälfte der Scheune war durch dicke Holzbalken abgetrennt und stand den beiden Pferden komplett zur Verfügung, sodass sie mehr als ausreichend Platz für gewaltige Wälzorgien hatten. Mit einem Blick nach oben konnte ich direkt das Ziegeldach des Hauses erspähen, worunter es sich ein kleines Vogelpärchen bequem gemacht haben musste, denn das verlassene Nest lag von Mensch und Tier unerreichbar auf einem der Dachbalken. Die Sonne fiel durch die Fenster, die genauso aussahen wie die übrigen der Finca. Ich vermutete, dass die kleine Scheune früher auch einmal zum Wohnraum gehört hatte, aber dann aufgrund des entsprechenden Bedarfs Wände und Boden ausgeschlagen worden waren, um die Stallungen entsprechend herzurichten.
Inzwischen war auch das zweite Pferd bei mir angekommen, streckte seinen kräftigen Hals über den Holzbalken und stupste mich sanft an der Schulter an. Offensichtlich sah er nicht ein, warum er auf einen Keks verzichten sollte und verschlang krachend das Gebäck, was Angelo zunächst mir zugesteckt hatte.
"Die beiden sehen wunderschön aus", befand ich schwärmend. "So elegant, mächtig und stämmig. Wie heißen sie?"
"Das sind Ezio und Romeo, zwei Wallache aus Apulien. Papà hat sie vor einigen Jahren zu uns geholt. Die genauen Hintergründe kenne ich nicht. Ich weiß nur, dass es ausgebildete Polizeipferede sind."
Überrascht hob ich die Augenbrauen. "Die beiden waren bei der berittenen Polizei?"
Angelo nickte. "Ja. Aufgrund ihres Charakters und ihres stämmigen Körperbaus werden die Murgesen gerne dafür eingesetzt. Man merkt es Ezio und Romeo auch an, weil die beiden einfach nichts aus der Ruhe bringen kann. Außer Feuer." Ezio schnaubte empört, weil Angelos Kekse alle waren und Romeo zupfte bereits wieder am Heu.
"Hm, dann werden die beiden vielleicht etwas erlebt haben womit sie nicht umgehen konnten", überlegte ich. "Das würde erklären, dass dein Papà sie von der Polizei übernehmen konnte."
Angelo hob die Schultern. "Wie gesagt, ich weiß nichts Genaues. Beim Reiten halten wir uns einfach von Feuer fern und alle sind glücklich und zufrieden. Kannst du reiten?"
"Können ist zuviel gesagt", erwiderte ich. "Vor ein paar Jahren hatte ich mal einige Reitstunden. Sagen wir so, ich kann lenken und habe einen Hintern zum Sitzen."
Frech lugte Angelo auf meine Kehrseite, die in meiner Jeansshorts tatsächlich besser als nur akzeptabel aussah, grinste und zwinkerte mir zu. "Kann ich bestätigen", witzelte er und sofort schoss mir die verlegene Röte ins Gesicht. Verfluchte Axt, erst denken, dann reden - nicht umgekehrt!
In dem Moment hob Ezio einen Huf und donnerte mehrmals an den unteren Holzbalken, als wolle er mich auf seinen Rücken bitten, damit ich mit ihm über die Felder galoppieren würde. "Schau mal, er will raus", interpretierte ich und stellte mir vor, wie ich mit wehenden Haaren und seinen donnernden Hufen durch die Landschaft jagen würde.
"Er will Futter", zerstörte Angelo meine wildromantische Vorstellung. "Aber wenn du Lust hast, können wir wirklich einen entspannten Ausritt machen und ich zeige dir meinen Lieblingsplatz, an den ich mich immer zurückziehe, wenn ich für mich sein will."
Oh wow, dieses Angebot betrachtete ich als einen enormen Vertrauensbeweis. Ich wüsste nicht, ob ich jemandem meine Ruheoase verraten würde, schon gar nicht, wenn ich denjenigen erst seit wenigen Tagen kannte. Aber gut, die Verbindung zwischen Angelo und mir war ohnehin unerklärlich. Er war mir in den letzten Tagen so wichtig geworden, wie es bisher kein anderer Mensch - außer mein Bruder und Stella, klar! - geschafft hatte. Bei ihm fühlte ich mich wohl, so angenommen wie ich war und schien überhaupt nichts falsch machen zu können. Mit ihm dachte ich nicht über Probleme nach und wünschte mir, das Leben wäre immer so einfach wie die Zeit, die wir gemeinsam verbrachten."
"Das würde ich sehr gerne machen", bestätigte ich und begann schon zu überlegen, ob Ezio oder Romeo mich tragen sollte. Angelo freute sich wie ein kleines Kind, das endlich das letzte Türchen am Adventskalender öffnen durfte, und begann, in der kleinen Sattelkammer herumzukramen. Schließlich kam er mit einem Gewirr an Lederriemen und Lammfellpads beladen wieder heraus und drückte mir alles in die Hand, was ich für eines der Tiere brauchte. Als er meinen fragenden Blick bemerkte, sah er von einem Pferd zum anderen und zuckte dann mit den Schultern.
"Ezio rennt und Romeo pennt", fasste er zusammen und lachte selbst über seinen zufälligen Reim. "Such's dir aus!"
Ich entschied mich für den gutmütigen Romeo, zog ihm alles an und im Nu saßen wir schon auf dem Rücken der Tiere, die nun gemütlich schaukelnd die schmale Straße hinabtrotteten, die wir gekommen waren. Angelo sollte Recht behalten: nebeneinander zu reiten war fast unmöglich. Romeo groovte sich hinter Ezios breitem Hintern ein und ließ sich von dessen Schweif die Fliegen aus dem Gesicht wedeln. Genau mein Humor!
Jetzt zur Siestazeit war es unerträglich heiß. Von Angelo hatte ich noch einen leichten Wildlederhut mit breiter Krempe bekommen, der meinen Nacken und meine Schultern vor der stechenden Sonne schützten. Die Pferde pusteten kräftig aus ihren Nüstern und waren dankbar, dass wir es nicht eilig hatten.
Bevor wir das Ende der Auffahrt erreicht hatten, bogen wir ins Feld ab und latschten zwischen zwei Bahnen reifer Melonen hindurch. Da Romeo ohnehin sein Hirn abgeschaltet zu haben schien und sich an Ezio festgeklemmt hatte, konnte ich mir die grüngestreiften Früchte ganz genau ansehen. Unfassbar, wie riesig einige Kugeln waren!
"Unsere Melonen sind in der Regel alle mindestens fünf Kilo schwer, manche mehr, manche weniger", erklärte Angelo, als ich ihm meine Gedanken mitteilte. "Aber das geht schnell, immerhin besteht die Frucht zu rund neunzig Prozent aus Wasser. Wusstest du, dass eine spezielle Wildform der Wassermelone in der Kalahariwüste wächst?"
"Nein", gab ich beeindruckt zu und trieb Romeo ein bisschen an, um sowas Ähnliches wie Nebeneinanderreiten hinzubekommen. "Es gibt mehrere Sorten?"
Angelo drehte sich auf Ezio zu mir, weil Romeos Motivation zur Beschleunigung lediglich für eine halbe Pferdelänge gereicht hatte. "Ja, sicher. Wie das ja zum Beispiel auch bei Äpfeln der Fall ist. Es gibt amerikanische, afrikanische und sogar indische Melonensorten. Die Wassermelone, wie wir sie heute kennen, gibt es seit den Fünfzigerjahren auf dem europäischen Markt."
Ich fand das alles wirklich interessant und nahm mir fest vor, die neuen Informationen zu gegebener Zeit mit meiner Mutter zu teilen, die für sowas Tag und Nacht ein offenes Ohr hatte. Aber Angelos Stolz und Leidenschaft, die in seiner Stimme mitschwangen, würde ich garantiert nicht transportieren können. So wie er über das Familienunternehmen und sein Erbe redete, ging mir einfach das Herz auf.
Wir ritten noch eine ganze Weile weiter und ließen immer wieder die Pferde ohne Zügel vor sich hintrotten, damit wir die Hände für unsere Wasserflaschen frei hatten, die in unseren kleinen Satteltaschen steckten. Irgendwann erblickte ich in der Ferne einen breiten knorrigen Baum mit leicht schimmrigen kleinen Blättern und nicht weit davon entfernt einen akkurat gemauerten Brunnen aus Naturstein.
"Wir sind da", verkündete Angelo und Ezio trampelte schneller, weil er wohl das Brunnenwasser riechen konnte. "Dort im Schatten der Olive können wir alle uns etwas ausruhen."
Der Olivenbaum sah aus, als wäre er schon etliche Jahrzehnte alt. Sein mächtiger Stamm und die tiefhängenden zerfurchten Äste strömten eine einnehmende Ruhe aus und riefen in mir ein merkwürdig demütiges Gefühl hervor. Wir schlangen die geteilten Zügel locker um die Äste - es war sowieso zu warm, als dass die Pferde Fersengeld geben würden! - und zogen für sie den Wassereimer zum Saufen aus dem Brunnen. Dann machten wir es uns auf dem trockenen Boden unterm Baum bequem.
"Es ist wirklich sehr schön hier", befand ich. "Hier geht tatsächlich ein kleines Lüftchen und im Schatten lässt es sich doch aushalten."
Angelo lächelte mild und sah mich unerwartet eindringlich an. "Freut mich, dass es dir genauso gefällt wie mir. Ich komme sehr oft hierher, wenn ich nachdenken möchte oder nutze auch die Ruhe zum Lernen."
"Also hast du hier auch Deutschvokabeln gelernt?", schlussfolgerte ich.
"Unter anderem, ja." Es entstand eine kleine Pause zwischen uns, in der wir dem Zirpen der Zikaden zuhörten, die Pferde beim Saufen und Dösen beobachteten und entspannt aus unseren Wasserflaschen tranken. Ich konnte mich tatsächlich nicht daran erinnern, wann ich mich das letzte Mal so unbeschwert und wohl gefühlt hatte.
"Sag mal", begann Angelo nach ein paar Minuten, "wurdest du schonmal von der Liebe enttäuscht?"
Ui, jetzt begann aber wirklich der Deep Talk! Ich war mir sicher, dass er das nicht ohne Grund wissen wollte und entschloss mich, nach seiner Motivation zu fragen. "Warum möchtest du das wissen?"
Angelo richtete sich ein wenig auf, nahm meine Hand in seine und strich mir mit der anderen zart über meine glühenden Wangen. Es fühlte sich an wie Seelenbalsam. Jedes gebrochene Herz könnte er so kitten. "Weil ich das Gefühl habe, dass du in jedem Menschen das Gute siehst und ihnen schnell dein Vertrauen schenkst. Da frage ich mich, ob dir überhaupt schonmal Enttäuschung und Traurigkeit widerfahren ist."
Ich blickte zu Boden, seufzte tief und erinnerte mich... an Paul, diesen Vollhonk!
"Was ist damals passiert?" Am Ende der Frage senkte Angelo seine Stimme ab, sodass es weniger eine Erkundigung als eine liebgemeinte Aufforderung zum Erzählen war. Und ich startete einfach. Endlich einmal über meinen Schmerz zu reden, konnte ja nicht falsch sein.
"Paul und ich haben uns in der Uni kennengelernt. Wir waren beide im dritten Semester, besuchten deshalb die gleichen Vorlesungen und begegneten uns regelmäßig. Wir merkten schnell, dass die Chemie zwischen uns mehr als stimmte, vielleicht waren wir sogar sowas wie seelenverwandt. Schnell kamen wir zusammen und verbrachten sehr viel Zeit miteinander. Ich erwartete, dass wir uns gegenseitig irgendwann satt haben und nerven würden, aber das passierte einfach nicht. Ich war im Kopf schon sehr weit mit unserer Beziehung und konnte mir tatsächlich vorstellen, dass es ewig so weitergehen würde. Wir versprachen uns, dass wir uns gegenseitig unterstützen und durch die Prüfungen treten würden, die teilweise wirklich sehr anstrengend gewesen waren."
Hier musste ich unterbrechen. Die Erinnerung an diese Zeit setzte mir einen dicken Kloß in den Hals und Tränen stiegen in mir auf. Angelo rückte an den Stamm des Olivenbaums, breitete einen Arm aus und bot mir an, mich an ihn zu lehnen. Ohne Nachzudenken robbte ich zu ihm hinüber und schmiegte mich an ihn. Sofort hatte ich das Gefühl, freier atmen zu können.
"Und dann?", hakte er nach, als ich mich wieder etwas gefangen hatte.
"Dann kam der Autounfall", erzählte ich weiter. "Ich war eine Weile im Krankenhaus und musste deshalb das Studium unterbrechen. Paul war sauer und enttäuscht, dass ich ihn nun mit den Prüfungen und Semesterarbeiten augenscheinlich alleinließ. Als ich wieder nach Hause konnte, verließ er mich mit der Begründung, er bräuchte eine Freundin, auf die er sich verlassen könne und die ihre Versprechen auch einhielte."
"Aber du hast das doch nicht mit Absicht gemacht. Es war ein Unfall. Außerdem hätte er dir beistehen müssen in der Situation und nicht umgekehrt." Angelo gelang es kaum, den Ärger in seiner Stimme zu kontrollieren.
"Als ich im Krankenhaus war, hat er mich auch regelmäßig besucht und mir versichert, dass alles in Ordnung sei. Dass wir alles gemeinsam schaffen würden. Das böse Erwachen kam dann erst später."
Angelo schwieg und strich tröstend über meinen Oberarm auf und ab. Ihm fehlten offensichtlich die Worte, um das Verhalten dieses Menschen zu kommentieren. Was ich auch verdammt gut verstehen konnte.
"Mittlerweile bin ich damit durch. Nur manchmal macht es mich noch traurig und wütend, weil ich nicht verstehe, wie ich mich derart in einem Menschen täuschen konnte", gestand ich offen. "Doch ich weiß, dass eben nicht alle so sind und jeder seine Chance verdient hat."
Ich legte meinen Kopf in den Nacken, sodass ich ihm noch immer an seiner Schulter liegend in die Augen schauen konnte. Er legte seinen Finger unter mein Kinn und schien mir das Gold seiner Augen ins Herz gießen zu wollen. Voller Wärme und Rührung sah er mich an. "Und das ist unglaublich stark und bewundernswert, Franka. Ich habe noch nie jemanden getroffen, der das so kann wie du. Du bist einzigartig!"
Sanft und vorsichtig berührte er meine Lippen mit seinen. Ganz zart nur, unglaublich liebevoll, als wolle er alles Böse und Traurige, was ich erlebt hatte, mit seinem Kuss ausgleichen. Und es schien zu funktionieren. Mein Herz begann zu schweben, die grauen Zellen in meinen Kopf warfen buntes Konfetti und über meinem ganzen Körper breitete sich trotz der Affenhitze eine wohlig kribbelnde Gänsehaut aus. Eigentlich hatte ich bis eben noch tausend Fragen im Kopf, die ich Angelo noch stellen wollte. Aber jetzt in diesem Moment hatte ich sie alle vergessen.
Er kitzelte ein wenig mit seiner Zungenspitze an meinen Lippen. Als ich bereit war, ihn einzulassen, unterbrach er den Kuss, ließ mich hungrig nach mehr zurück und beobachtete mit blitzenden Augen, wie ich mir verstohlen die Lippen leckte. Gott, wie gemein!
Bevor eine unangenehme Pause entstehen konnte, richtete er sich ein wenig auf, sodass ich mich aus seinem Arm löste und ihn freigab. "Lass uns zurückreiten", meinte er. "Mamma wird sicher bald ein kleines Abendessen herrichten und dann müssen wir auch schon wieder heimfahren."
Widerwillig seufzend ließ ich mich in die Höhe ziehen und mit einer fast schon eleganten Kraftaktion hievte Angelo mich wieder auf Romeos Rücken. Die Nachmittagssonne hatte inzwischen ein wenig Erbarmen mit uns, sodass wir uns auf dem Rückweg ein paar kurze Galoppstrecken gönnen konnten. Ezios und Romeos Tritte wurden immer länger und schneller, je näher wir ihrem heißersehnten Hafer kamen.
Die Verabschiedung von der Mamma gestaltete sich in meine Richtung überaus herzlich, in Angelos allerdings sehr tränenreich. Aus ihrem Mund rauschte wieder ein verbaler Wasserfall, in dem in unfassbarer Häufigkeit das Wort "amore" gefolgt von mütterlichen Kussorgien vorkam. Angelo lachte, grinste und schaffte es irgendwann, seine Mutter auf Abstand zu halten und ins Auto zu steigen. Die rote Büchse hing tief in den Knien, weil im Kofferraum eine stattliche Anzahl Melonen verstaut lag. Ich dankte Gott im Himmel, als wir schließlich kurz vor Mitternacht ohne weitere schockierende Zwischenfälle den Campingplatz erreichten.