11 Pranzo
Als nun unsere Kleidung nur noch leicht feucht war, kletterten wir wieder nach hinten ins Auto und fuhren weiter. Laut Angelos Angaben sollte es bis zur Familienfinca noch eine gute Stunde dauern. Bereits schon nach wenigen Minuten hatte sich die Blechbüchse wieder unerträglich aufgeheizt. Dank des frischen Trinkwassers, das ich auch hin und wieder auf meiner Stirn und im Nacken verteilte sowie die kühlende Nässe meiner Kleidung gestaltete sich der Rest der Fahrt fast schon als angenehm.
Dennoch hatte der kleine Schockmoment bei allen Mitfahrern seine Spuren hinterlassen: die Jungs hatten die Musik leiser gedreht und wirkten auch nicht mehr so überdreht und energiegeladen. Sie unterhielten sich nur noch sporadisch und meistens ging es dabei um den Weg, wo beispielsweise als Nächstes abzubiegen war. Ehrlich gesagt war mir der Zwischenfall ziemlich unangenehm. Auch wenn ich natürlich wusste, dass das Quatsch war, aber ich fühlte mich dafür verantwortlich, die Stimmung versaut zu haben. Ich hoffte inständig, dass sich alle besser fühlen würden, je näher wir dem Ziel kamen.
Irgendwann verließen wir die Hauptstraße und bogen auf einen schmalen Weg ein, bei dem sich Teer- und Kiesflecken abwechselten und sich mittig ein trockener Grasstreifen irgendwie am Leben erhielt. Je näher wir uns auf das Haus zubewegten, desto gepflegter sah die ganze Anlage aus. Wir fuhren bergauf, rechts und links waren sporadisch in regelmäßigen Abständen junge kleine Zypressen gepflanzt und dahinter erstreckte sich jeweils die Weite der Melonenfelder. Auf dem braunen Boden zogen sich krautartige grüne Bahnen, in denen deutlich die dicken, augenscheinlich fast reifen Melonenkugeln lagen und auf die Ernte warteten. Ich war tief beeindruckt, aß ich doch regelmäßig im Sommer zuhause süße pinke Wassermelonen und hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wo sie eigentlich herkamen. Ab heute würde das so sicher wie das Amen in der Kirche anders sein!
Das Auto hielt nun direkt vor der süßen Finca und die Jungs flüchteten erleichtert aus dem stickigen rollenden Gefängnis. Auch ich krabbelte hinter dem umgeklappten Beifahrersitz ins Freie und ließ erstmal die neue Umgebung auf mich wirken.
Die Familienfinca war eigentlich nichts anderes als ein großer, zweistöckiger aus typisch mediterranem Naturstein errichteter Quader mit einem flachen roten Ziegeldach und einem winzigen Schornstein. Rundherum waren in regelmäßigen Abständen kleine Fenster eingelassen, wobei die oberen noch über dunkelbraune Fensterläden verfügten, um die niedrigen Räume vor der stechenden Mittagssonne zu schützen. An den unteren Fenstern hingen kleine zu kurz anmutende Blumenkästen mit intensiv duftenden Kräutern, wobei der Rosmarin klar hervorstach. Auf der rechten Seite des Hauses erkannte ich ein kleines zweiflügeliges Tor, das in eine Art Anbau zu führen schien... und wohinter es auf einmal schnaubte und wieherte. Die Familie hatte doch tatsächlich Pferde im Stall stehen! Bei diesen Tieren schlug mein Herz immer sofort vor Begeisterung höher und ich würde sie mir nachher unter allen Umständen ansehen müssen.
Links neben der Eingangstür, die lediglich eine normale Zimmertür mit einer kleinen Scheibe war, befand sich noch eine urgemütliche Veranda, sprich ein durch unregelmäßig viereckige Natursteinsäulen abgestütztes Vordach. Darunter eine provisorische Holzbank mit hellem Sitzpolster sowie einem einfachen Tisch mit einem kleinen frischen Strauß Sommerblumen in der Mitte.
"Es ist nichts Besonderes oder Elegantes", bemerkte Angelo, der sich schon fast für die Einfachheit des Anwesens zu entschuldigen schien. "Aber es ist mein Zuhause..."
Ich nickte und ergriff sentimental gerührt seine Hand. "Ein wundervolles Zuhause. Ich kann fühlen, wie viel Liebe und Wärme in diesem Haus steckt. Man kann es einfach nur lieben!" Auch wenn mir das echt peinlich war, bekam ich feuchte Augen, überwältigt von der Geschichte und den Emotionen, die das Haus mir entgegenzubringen schien. Sowas hatte ich noch nie in einer mir eigentlich fremden Umgebung verspürt.
Angelo war ähnlich ergriffen. "Ich war viel zu lange nicht mehr hier", flüsterte er andächtig.
In dem Moment flog die kleine Haustür auf und der personifizierte Sonnenschein trat hindurch, um uns zu begrüßen. Eine kleine Frau mit wilden grauschwarzen Locken, intensiven Lachfalten um Augen und Mund und einem zauberhaft süßen hellblauen Sommerkleid mit feinem weißen Blumendruck breitete freudestrahlend ihre Amre aus und wartete darauf, dass sich ihr Sohn hineinwerfen würde.
"Tesoro mio! Ti ho aspettato per così tanto tiempo!" Die beiden drückten sich fest und anschließend wurde Angelo mit so vielen Küssen übersät, wie es nur eine Mutter binnen kürzester Zeit tun konnte, was ihm vor mir sichtlich unangenehm war. Nachdem er sich endlich aus dem Begrüßungssturm gelöst hatte, streckte er einladend die Hand nach mir aus und bedeutete mir, zu ihm zu kommen.
"Mamma, questa è Franka", stellte er mich vor und ergänzte, dass ich eine Freundin sei, die er vor Kurzem kennengelernt habe.
"O, benvenuto da noi, bella Franka", begrüßte mich die Mamma und herzte mich sogleich. Na gut, warum auch nicht? Sie hatte mich hübsche Franka genannt, was ich irgendwie als sehr süß und persönlich empfand.
Ihre Umarmung duftete fruchtig und würzig zugleich, eben wie eine eifrige Frau duftete, wenn sie sich selbst in der Küche zu übertreffen versuchte. Ich war unheimlich neugierig, was sie wohl auf den Tisch zaubern würde und hörte, wie mein Magen euphorisch laut knurrte. Damit schien ich nicht allein geblieben zu sein, denn Angelo lachte herzlich und die Mamma jagte uns händewedelnd und herzlich quatschend wie ein Buch vor sich her ins Haus.
Hier setzte sich die Schlichtheit in der Gestaltung und Einrichtung der Räume fort. Das ganze Erdgeschoss schien gefühlt nur aus einem riesigen Wohnraum zu bestehen. Auf der rechten Seite der Tür stand eine große Sitzgruppe aus hellen einfachen Sofas mit einem beeindruckenden Couchtisch aus Olivenholz. Hinten in der Ecke stand ein kleiner, noch vom Winter verrußter Kamin, der den Schornstein auf dem Dach erklärte. Linkerhand befand sich die Wohnküche mit einfachen Stühlen und einem großen Tisch und weiter hinten erkannte ich eine typisch mediterrane Landhausküche, aus der es herrlich duftete. Der Fußboden war hell gefliest und die Wände in strahlendem Apricot verputzt. An manchen Stellen trat der Naturstein bereits hervor, was zwar wohl nicht beabsichtigt war, aber dennoch hervorragend aussah. Ich würde den Putz niemals ausbessern wollen, es hatte einen warmherzigen optischen Charme. Überall standen riesige runde Kübel aus Terrakotta, die sowohl bunte Sommerblumen als auch Küchenkräuter oder einzelne Palmen beherbergten.
Angelo und ich saßen bereits am Tisch, als seine beiden Freunde mit lauten italienischen Rufen durch die Tür stürmten und ebenfalls von der Mamma wild herzend begrüßt wurden. Offensichtlich waren sie schon öfter hier gewesen und im Familienkreis ebenfalls willkommen.
Nach einer kurzen Unterredung mit seiner Mamma wandte sich Angelo mir zu und übersetzte die Konversation. "Ich habe sie gerade gefragt, wo mein Vater ist und ob er auch zum Essen kommt. Aber er ist heute auf dem Markt in der Stadt und verkauft die ersten Melonen, die er schon ernten konnte. Mamma sagt, dieses Jahr wird wohl schwer für die Cocomeraros."
Ich warf einen Blick in die große Landhausküche, wo die Mamma mit dem Rücken zu uns stand und scheinbar Berge von Zubereitetem in eine riesige Schale zu füllen schien. Um Himmels Willen, wir waren doch nur fünf Personen, keine ganze Kompanie!
"Cocomeraros?", musste ich nachfragen und Angelo erklärte sofort: "So nennt man den Beruf der Melonenverkäufer, die entweder so wie mein Papà auf dem Markt oder mit großen Anhängern voller Früchte am Straßenrand Melonen verkaufen."
"Ach ja, das hab ich schon gesehen", erinnerte ich mich. Ich wollte noch mehr fragen, aber das musste warten. Denn in dem Moment kehrte die Mamma mit einer lächerlich überdimensionierten dampfenden Glasschale und einem darin liegenden Kochlöffel an den Tisch zurück. Sie setzte sich zu uns und erklärte dann, was sie für uns gezaubert hatte. Ich verstand zwar zunächst nicht viel, aber so wie sie sprach, klang es so poetisch wie ein Gedicht. Die Worte flossen harmonisch aus ihrem Mund und wurden gepaart mit ihrem stolzen strahlenden Lächeln zu einem Ganzen. Unsere Mägen durften sich nun auf Kartoffelgnocchi mit Salsiccia und Melone mit einem Hauch süßen Honigs freuen. Auch ein besonderes Dessert hatte sie vorbereitet, aber dazu wolle sie später mehr sagen, meinte sie augenzwinkernd.
Die Jungs spachtelten, als wären sie dem Hungertod nahe und ich begann zu erahnen, warum die Mamma diese Menge für notwendig erachtet hatte. Es schmeckte unbeschreiblich. Ungewohnt, besonders, mediterran, außergewöhnlich, exotisch. So sehr ich es auch genoss, ich machte mir nicht die Mühe, nach dem Rezept zu fragen. Zuhause würde es nicht ansatzweise so gut schmecken, weil auch der Zauber dieses Ortes den Geschmack mit ausmachte.
Während wir aßen, erfuhr ich den eigentlichen Grund, warum Angelos Freunde mitgekommen waren: wenn die Erntezeit begann, dann halfen sie auf dem Feld mit und durften einige Melonen zum Selbstverzehr behalten. Außerdem hatten sie mit Aarons Restaurant auf dem Campingplatz einen guten Deal ausgehandelt und versorgten die Küche in regelmäßigen Abständen mit den saisonalen Früchten.
Diese Geschichte ließ mich aufmerksam werden. Dion und Aaron unterstützen Angelos Familie, obwohl sie sich nicht wirklich grün waren? Damit musste es definitiv mehr auf sich haben, als es jetzt auf den ersten Blick den Anschein hatte, und auf diese Hintergründe war ich wirklich gespannt. Danach würde ich Dion bei Gelegenheit fragen müssen.
Nachdem wir die riesige Glasschale doch tatsächlich geleert hatten - und ich war wirklich nur für eine winzige Ecke daraus verantwortlich -, holte die Mamma Dessertgläser aus dem Kühlschrank und verteilte sie vor uns auf dem Tisch. Dann setzte sie ihr kulinarisches Gedicht fort: vor uns befanden sich nun Melonenwürfel mariniert mit Cantuccibröseln und mit einer Soße aus Melonen- und Zitronensaft sowie Honig verfeinert. Davon konnte ich nicht genug bekommen und war dankbar, dass die Mamma in weiser Voraussicht für jeden zwei Gläser vorbereitet hatte. Ich kannte Melonen bisher nur zusammen mit aromatischem Parmaschinken, aber diese Komposition der Zutaten war einfach unvergleichlich und spannend für meine ungebildeten Geschmacksknospen.
Angelos Mamma schien mir deutlich anzusehen, dass es mir geschmeckt hatte und ihr freudiges Strahlen war einfach unbezahlbar. Die beiden Jungs hielt es nicht mehr auf ihren Stühlen und sie stürmten nach draußen, um sich auf dem Feld die besten Früchte herauszupicken. Für uns drei bereitete die Mamma noch Espressi zu und setzte sich dann entspannt zu uns. Ihre dunkelbraunen Augen blitzten mich neugierig an und ich bereitete mich auf ein wohlgemeintes mütterliches Verhör vor.
Und richtig!
Wo ich herkäme, was ich studierte, was ich hier machte, woher ich Angelo kannte und was ich an ihm so mochte. Ich antwortete artig, in Köln aufgewachsen zu sein, gerade meinen Bachelor in Germanistik abgeschlossen zu haben, nun hier einen Familienurlaub machte, Angelo mir nach einem kleinen Unfall geholfen hatte und ihre letzte Frage brachte mich massiv in Verlegenheit. Ich war ihr dankbar, als sie sie taktvoll lächelnd überging und sich lediglich ihren Teil dachte. Nach einigen Minuten entspannter Unterhaltung erhob sie sich und entschuldigte sich, da sie sich nun zur Siesta zurückziehen würde.
"Möchtest du auch Siesta halten? Oben ist mein altes Zimmer, wo wir uns ausruhen können." Angelo leerte seinen Espresso und sah mich dann erwartungsvoll an.
Oh je, mein Herz schlug auf einmal durcheinander wie der Crambler auf der Kirmes. Die Verlockung, nach oben zu gehen und kuschelige Zweisamkeit mit Angelo zu genießen, war in der Tat sehr groß. Aber hatte ich wirklich jetzt den Mumm dazu, ihm so nahezusein? Was, wenn er mehr verlangen würde, als ich bereit war zu geben? Das würde die ganze harmonische Atmosphäre zerstören, die wir in den letzten Tagen zwischen uns aufgebaut hatten. Diese nun aufs Spiel zu setzen, dazu war ich nicht bereit.
In dem Moment fiel mir wieder das kleine Tor ein, das ich bei unserer Ankunft entdeckt hatte und dahinter Pferde vermutete. Sorry, aber die mussten jetzt zur Rettung der Situation herhalten.
"Nein, keine Siesta. Ich möchte unbedingt eure Pferde sehen. Ihr habt doch welche?" Angelos anfängliche Enttäuschung wich sofort freudestrahlender Euphorie und er sprang auf.
"Ja, die haben wir. Komm, sie werden sich freuen, dich kennenzulernen."