10 Hitzschlag
Eigentlich hatte ich mich sehr auf den Ausflug mit Angelo und seinen Jungs gefreut. Um ehrlich zu sein, hatte ich die ganze letzte Nacht kaum schlafen können und bin gefühlt hunderte Male meinen Koffer durchgegangen, was ich wohl heute anziehen könnte. Ich hatte mich für eine weiße ärmellose Bluse und klassische Jeansshorts entschieden, dazu weiße Sneaker mit Memory Foam und fester Sohle. Ich hatte ja schließlich keine Ahnung, wo wir überall langlaufen würden und wollte mit festen Schuhen auf Nummer Sicher gehen. Jetzt saß ich hier schon seit gut zwei Stunden auf der Rückbank des roten Kleinwagens und betete darum, nicht zu ersticken.
Der Wagen war im Prinzip nicht mehr als ein rollender Schuhkarton und ich bezweifelte ernsthaft, dass er in Deutschland noch durch den TÜV gekommen wäre. Vier Räder zum gleichmäßigen Vorwärtsrollen vorhanden. Drei Zylinder, wovon aber garantiert schon einer den Geist aufgegeben hatte. Außenspiegel an der Beifahrerseite irgendwo in einem Parkhaus in Florenz verlorengegangen. Rückspiegel aus Gründen, die ich lieber nicht in Erfahrung bringen wollte, mit Spider-App. Klimaanlage bei aktuell 38 Grad Außentemperatur: Fehlanzeige. Fenster zum Öffnen bitte herunterkurbeln, hinten allerdings unmöglich aufgrund fehlender Kurbel. Auch die Jungs schwitzten munter vor sich hin, unterhielten sich aber laut und euphorisch auf Italienisch, sodass ich nur vereinzelt Wörter identifizieren konnte. Dazu brabbelte irgendein Radiomoderator in unglaublichem Tempo die neuesten Infos zu Pophits durch den Lautsprecher. Hin und wieder übersetzte Angelo, der neben mir auf der Rückbank saß, worüber sie sich gerade unterhielten und hoffte, er würde irgendwann mal die Wörter Supermarkt und Wasser erwähnen. Ich hatte mir zwar noch eine Flasche aus der Kühlbox genommen, aber die war inzwischen auch fast leer und der eiserne Notreserveschluck pisswarm.
Die Jungs johlten, als ein ihnen wohlbekannter italienischer Song aus den Boxen schepperte, drehten noch weiter auf und sangen mit. Ich vegetierte weiter vor mich hin, befürchtete, dass mein BH durch die durchgeschwitzte Bluse scheinen würde - Scheiß drauf, niemand konnte etwas gegen feine rosa Spitze haben! - und ließ wie im Traum die Landschaft am Autofenster vorüberziehen.
Der mediterrane heiße Sommer hatte bereits deutliche Spuren hinterlassen. Die Felder wirkten trocken und ausgedörrt. Lediglich die weitläufigen Weinhügel schienen sich über die satte Sonne zu freuen. Ich stellte mir vor, wie eine reife süße, sonnenwarme Traube auf meiner Zunge zerplatzte und bekam nur noch mehr Durst. Immer wieder passierten wir kleine Kieswege, die weiter hinauf durch sachte Hügel führten und meistens gesäumt von hohen eleganten Zypressen irgendwo bei einer kleineren oder größeren Finca endeten. Mit der Zeit veränderte sich die Landschaft, wurde flacher und steiniger, das Grün nahm immer mehr ab und machte erbarmungslosen Grautönen Platz. Die Gegend wirkte so lebensfeindlich, dass einem allein schon vom Hinsehen die Kehle austrocknete. Es half alles nichts, ich musste den letzten Schluck Wasser aus meiner Flasche trinken. Mein Kopf fühlte sich inzwischen an wie ein heißgelaufener Computer kurz vor dem Absturz.
Nachdem ich die Flasche geleert hatte, überkam mich eine seltsame bleierne Müdigkeit. Ich lehnte meinen Kopf nach hinten, schloss die Augen und konzentrierte mich darauf, Luft einzuatmen, die zumindest noch einen Minimalanteil an Sauerstoff in meine Lunge brachte. Langsam duselte ich weg und merkte nicht mehr, wie die leere große Glasflasche mit einem dumpfen Aufprall in den Fußraum bollerte.
Unsanft wurde ich aus meiner süßen Ruhe gerissen. Irgendwer hatte an meiner Schulter gerüttelt und mir ins Gesicht gepustet. Mühsam kämpfte ich meine Augenlider nach oben und blickte direkt in drei besorgte Augenpaare. Der Wagen war am Straßenrand zum Stillstand gekommen, links von uns lag nach wie vor das trostlose Nichts und irgendwo dahinter würde bestimmt das Nirvana beginnen. Auf der rechten Seite entdeckte ich ein breites nahezu ausgetrocknetes Flussbett. Lediglich in der Mitte schlängelte sich noch ein verzweifeltes knöchelhohes Rinnsal über die Steine und hoffte wohl inständig, die Sommerhitze irgendwie zu überleben. So wie ich gerade.
Wasser! Meine Rettung!
Ich musste hier sofort raus, sonst würde ich mit sinnloser Gewalt versuchen, sämtliche Scheiben einzuschlagen. Erst jetzt merkte ich, wie Angelo wiederholt meine Wange tätschelte. So energisch, dass es echt schon ein bisschen zwiebelte.
"Franka, aufwachen! Hey, mamma mia!" Angelo drückte mir einen erleichterten Kuss auf die Stirn, als ich ihm endlich in die Augen sah. Keine Ahnung, wie lange wir hier schon standen, aber auch die beiden Jungs, die sich in ihren Sitzen zu uns umgedreht hatten, atmeten erleichtert auf.
"Alles gut, ich bin da", beruhigte ich sie und hob abwehrend die Hände. Angelo folgte nun meinem Blick, der bedeutungsvoll immer wieder an ihm vorbei zum Flussbett ging und bedeutete seinem Freund mit wedelnden Händen, schnell auszusteigen. Dann riss er den Beifahrersitz um, kletterte hinaus und zog mich - immernoch träge und benebelt - aus dem Auto. Sofort spürte ich einen leichten Lufthauch, auch wenn der bedingt durch mangelnde schattenspendende Waldflächen ekelhaft warm war. Da hätte mich auch genausogut ein Föhn anpusten können. Energisch löste ich mich von Angelo und legte einen torkelnden Vollsprint zum Wasser hin. Ohne Rücksicht auf Verluste und meine nun definitiv durchsichtig werdende Bluse warf ich mich seufzend rücklinks ins Flussbett.
Noch nie war mir frisches kühles Wasser in der Natur so angenehm und erleichternd vorgekommen. Es fühlte sich gerade an wie flüssiges Glück, das mir leise plätschernd um die Ohren gurgelte und sanft den Rücken streichelte. Meine Hände strichen über die rundgewaschenen Kieselsteine, nahmen mal einen auf und legten ihn ein paar Zentimeter weiter wieder ab. Meine Haare wurden durch die minimale Strömung bewegt und kitzelten mich wie sanfte Wattewölkchen an den bloßen Schultern. Ich schloss wieder die Augen und genoss so sehr den Moment, in dem ich mich nichts weiter als frisch, lebendig und mit der Natur verbunden fühlte. Ich schwor mir, zurück am Zelt dieses Gefühl aufzuschreiben oder in einer Bleistiftskizze - denn was anderes hatte ich nicht dabei - festzuhalten.
Einige Minuten lang lag ich so da, ließ mich vom frischen Wasser umspülen, atmete tief und kam wieder zu Sinnen. Keine Ahnung, was das da eben im Auto gewesen war, aber ich fürchte, ich war dem Hitzschlag nahegewesen. Wie auch immer die Jungs das ausgehalten haben und noch Kraft für Energie und Unbeschwertheit gefunden hatten, war mir ein absolutes Rätsel. Aber gut, sie lebten hier. Offensichtlich hatten sie sich an die sommerlichen Extremtemperaturen bereits gewöhnt.
Nach einer Weile hörte ich, wie jemand in meine Richtung durchs Wasser schlurfte und schließlich einen Schatten über mein Gesicht warf, indem er sich über mich beugte. Murrend über die Störung in meinem persönlichen kleinen Paradies öffnete ich die Augen und machte die gelockte Silhouette Angelos aus. Na gut, der durfte stören!
Während ich mich aufrichtete, setzte Angelo sich direkt neben mich ins Wasser. Es schien ihn überhaupt nicht zu stören, dass er seine helle Cargoshorts und den Saum seines Leinenhemds durchnässte. Er hatte inzwischen meine Glasflasche aus dem hinteren Fußraum gefischt und hielt sie nun waagerecht ins Wasser, wo sie sich leise blubbernd wieder füllte. Dann robbte er noch etwas näher an mich heran und zog mich an seine Schulter, an die ich mich seufzend anlehnte.
Seine Berührungen und seine Gesten wirkten so vertraut, als müsste es genau so sein. Hier und jetzt konnte ich mir nicht mehr vorstellen, dass es jemals wieder anders sein würde. Dass er, wenn ich am Ende des Urlaubs wieder zuhause war, nicht mehr für mich da sein würde. Er drückte mir einen Kuss aufs Haar und rieb sanft meinen Oberarm. Ich bekam Gänsehaut und musste ihn ansehen. Seine goldbraunen Augen trafen meinen Blick und wurden so warm wie flüssiges Karamell. Wer konnte sich nicht darin verlieren? Oder vielleicht sogar verlieben? Aber war ich davon nicht noch ein Stück entfernt? Wann war man eigentlich wirklich verliebt? In meinem Kopf hallte leise Stellas Stimme wider, mit der ich mich vor dem Urlaub schon oft über dieses Thema unterhalten hatte: sobald du dein Herz verschenkt hast und es jeden Moment gebrochen werden kann.
Hatte ich nun wirklich mein Herz vergeben? Und was müsste passieren, dass es bricht? Denn so wie Angelo gerade neben mir saß, im kühlen Wasser, sogar noch an meine Flasche gedacht hatte, darauf pfeifend, dass nun auch er nass war und mich liebevoll in seinem Arm hielt, so konnte ich ihm augenblicklich alles verzeihen.
"Geht's dir besser, bella?", fragte er nun und strich mir mit seiner feuchten Hand eine Haarsträhne aus der Stirn. Ein paar Tropfen perlten über meine Wangen und meine Lippen, die Angelos Augen sehr aufmerksam verfolgten... bis er schließlich wieder meinen Blickkontakt fand.
"Ja", antwortete ich, "aber lass uns noch einen Moment sitzenbleiben, ja? Das tut gerade so gut..." Angelo seufzte und richtete seinen Blick nun demonstrativ in die Ferne. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich auch meine Bluse hätte ausziehen können, weil das sowieso keinen Unterschied mehr gemacht hätte.
"Ist egal, Angelo", beruhigte ich ihn. "Mach dir keine Gedanken. Ich weiß, dass du niemals gaffen würdest oder sowas. So ein Mensch bist du nicht." Er lächelte erleichtert und bemühte sich, wenn auch nicht zu hundert Prozent erfolgreich, mir nur ins Gesicht zu schauen. Ich nahm ihm das überhaupt nicht krumm, ganz im Gegenteil. Es verschaffte mir die Sicherheit, dass nicht nur ich seiner engelsgleichen Erscheinung verfallen war, sondern ich auch durchaus meine Wirkung auf ihn hatte. Egopush vom Feinsten, nehme ich doch glatt mit!
Aufmerksam blickte ich mich um und entdeckte am Rand des riesigen weitläufigen Flussbettes vereinzelt grüne Büsche und kleine Bäume. Dahinter ragten karge Felsen und kleine Berge in die Höhe, ansonsten gab es hier einfach nichts.
"Wo sind wir hier überhaupt? Und wohin fahren wir eigentlich?", erkundigte ich mich. Alles, worüber wir bereits sprachen, waren die Infos, dass wir zu seiner Familie aufs Land fuhren und sie Melonenbauern waren. Zu mehr waren wir noch nicht gekommen.
"Wir sind gerade an einem Ausläufer des Taro. Meine Eltern leben im Süden der Lombardei in der Nähe der Gemeinde Cremona." Ich nickte und tat, als wüsste ich genau Bescheid, aber ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung. Das Einzige, was mir Angelos Auskünfte verrieten war, dass wir uns von unserem Urlaubsdomizil aus nördlich bewegten und auf das Landesinnere zuhielten, mehr auch nicht.
"Früher haben wir in den Abruzzen in der Nähe von L'Aquila gelebt", erzählte Angelo weiter. "Aber als dort im April 2009 das schwere Erdbeben war, haben wir nahezu alles verloren." Sein Blick verdunkelte sich und ließ einen Anflug von Trauer und Verzweiflung durchscheinen. "Da die gesamte Gegend grundsätzlich erdbebengefährdet ist, entschloss sich meine Familie, die Gelegenheit zu nutzen und dort neu anzufangen, wo es sicherer war. Wir hatten Glück, dass alle aus der Familie überlebt hatten und betrachten das seither als Geschenk, als eine zweite Chance, die wir alle uneingeschränkt nutzen wollen."
"Wow, was für ein Schicksal", kommentierte ich. Wie das wohl gewesen sein musste, in den jungen Jahren alles zu verlieren und den Eltern quasi beim Neuanfang zusehen zu müssen? Vielleicht sogar unter den Trümmern der Katastrophe Bekannte und Freunde zu wissen, denen man nicht mehr helfen konnte. Ich mochte mir das gar nicht vorstellen und hatte auch nicht den Mut, danach zu fragen. Als Angelo weitersprach, mischte sich Stolz und viel Liebe in seine Stimme.
"Aber meine Eltern und Großeltern gaben nie auf. Sie haben erbittert gekämpft und gearbeitet, bis sie umfielen. Heute stehen wir wieder gut da und ernten die Früchte, die wir unter Schweiß und Tränen gesät haben. Ich hoffe, ich kann ihnen eines Tages zurückgeben, was sie mir geschenkt haben."
Ich nickte überzeugt und verschränkte meine Finger mit seinen. Merkwürdig, wie gut auch das zusammenpasste. "Das wirst du, da bin ich mir sicher. Warum sprichst du eigentlich so gut Deutsch?" Diese Frage quälte mich nun schon seit unserer ersten Begegnung, als er mich vom Kiesweg vor unserem Zeltplatz gekratzt hatte.
"Ich möchte in Deutschland Agrarwissenschaften studieren", offenbarte er. "Der Weg dahin ist allerdings nicht leicht und ich werde die Hilfe meiner Familie brauchen. Bis es soweit ist und wir alle finanziellen Mittel zusammen haben, arbeite ich mit auf dem Land und habe den Zusatzverdienst als Badeaufsicht in der Hochsaison auf dem Campingplatz. Aber so wie es aktuell aussieht, kann es bald losgehen!" Seine Euphorie und Vorfreude war weder zu überhören noch zu übersehen. Die goldenen Reflexe seiner Augen blitzten munter um die Wette. Aber mich beschäftigten gerade ganz andere Gedanken, die ich später würde ausführlich aufarbeiten müssen.
Angelo in Deutschland?
Das eröffnete auf einmal ungeahnte Möglichkeiten, an die bisher nicht zu denken war. Ich musste spätestens morgen unbedingt mit Stella darüber sprechen, denn die Emotionen, die diese Perspektive nun in mir auslöste, reichten von freudiger Erregung über panische Angst bis hin zu bodenloser Verunsicherung. Und eigentlich hatte ich doch nur entspannt Urlaub machen wollen!
"Da hast du dir aber eine Menge vorgenommen", gab ich meinen ungefragten Senf dazu und hoffte, dass er die Gedanken nicht zuende führen würde, die mich gerade angeflogen hatten. "Ja", bestätigte er. "Mal sehen, was die Zeit uns so bringen wird."
Bämms, er hatte von uns gesprochen! Damit war klar, dass auch er seine Synapsen verschaltet hatte und ähnliche Gedanken wie ich verfolgte. Mamma mia, hübsche Jungs konnten so anstrengend sein!
"Komm", forderte er mich auf und machte Anstalten, sich aus dem kühlen Nass zu erheben. "Lass uns zum Auto zurückgehen und noch einen Augenblick lang unsere Hosen trocknen. Wenn meine Mamma uns nicht pünktlich zum Pranzo empfangen kann, wird mein Handy explodieren." Er reichte mir die Hand, die ich dankbar annahm und zog mich vorsichtig auf die Füße. "Alles klar?", erkundigte er sich und ich fühlte nach, ob mein Kreislauf sich wieder eingekriegt hatte. Als sich alles frisch und munter an mir anfühlte, nickte ich. "Ja, alles wieder gut. Zum bitte was empfängt uns deine Mamma?" Ich bemühte mich, das Wort ebenso elegant italienisch auszusprechen wie er, weil ich das Gefühl hatte, seiner Mutter damit besonderen Respekt zukommen zu lassen. Nach allem, was ich bisher über sie wusste, hatte sie in meinen Augen nicht weniger verdient.
Angelo grinste und führte mich vorsichtig durch das flache Wasser über die groben Kieselsteine zurück zum roten Schuhkarton auf Rädern, wo er mir schließlich noch meine frisch aufgefüllte Wasserflasche reichte.
"Zum Mittagessen!"