1 Honig im Herzen
Sophie saß allein im hintersten Winkel des kleinen, gemütlichen Cafés, umgeben von dem sanften Murmeln der anderen Gäste und dem leisen, beruhigenden Klirren von Geschirr. Ihre Augen verfolgten die dicken Regentropfen, die langsam die große Fensterscheibe herunterliefen, als bildeten sie die Noten einer stillen Melodie – einer Melodie des Abschieds.
Er war hier, nur wenige Tische entfernt, umringt von seinen langjährigen Freunden. Sein Lachen erreichte sie wie eine ferne Erinnerung, warm und vertraut - und doch so unerreichbar. Er hatte ihr vor zwei Jahren das Leben gerettet. Nicht auf die klassische Weise. Er war da gewesen in einem Moment, der alles verändert hatte. In einem Moment, der sie hätte zerbrechen lassen können. Damals hatte er einfach den Mut aufgebracht, an ihrer Seite zu kämpfen, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Und an jenem Abend, als die Welt um sie herum zu laut wurde und die Luft zu dünn zum Atmen schien, hatte er sich vor sie gehockt und ihre Welt wieder zum Stillstand gebracht. Er hatte sie vorsichtig auf die Stirn geküsst, seine Lippen warm und weich, während die Musik und die Stimmen um sie herum zu einem fernen Rauschen verschmolzen. „Du bist toll, Sophie“, hatte er geflüstert, seine Worte kaum hörbar - nur für sie. In jenem Moment hatte es keine Rolle gespielt, wer zusah. Es hatte sich angefühlt wie süßer goldener Honig im Herzen.
Aber mit der Zeit hatte sich alles verändert. Er distanzierte sich, seine Besuche wurden seltener, nahmen schließlich ganz ab, seine Blicke wichen ihren aus. Clara hatte versucht, es zu ignorieren, zu rationalisieren. Vielleicht war es das natürliche Abklingen einer intensiven, durch außergewöhnliche Umstände entstandenen Bindung. Doch in ihrem Herzen hatte sich ein tiefes Gefühl der Verbundenheit verankert, das sie nicht abschütteln konnte und auch nicht wollte.
Heute, im Café, während sie ihn beobachtete, wie er unter Freunden war und entspannt lachte, spürte Sophie, wie der Schmerz des unerwiderten Sehnens ihr Herz umklammerte wie eine harte, eiskalte Hand. Sie hatte sich nie eine romantische Beziehung mit ihm gewünscht; seine Freundin war ein Sonnenschein und auch sie hatte seit kurzem jemanden an ihrer Seite, den sie von ganzem Herzen liebte. Aber darum ging es auch nicht. Was sie sich erhofft hatte, war Seelenverwandtschaft, eine tiefe freundschaftliche Nähe, in der sie sich sicher und verstanden fühlte, beschützt und geborgen, besonders und wertvoll. Doch mit diesem Sehnen blieb sie allein und gefährdete ihr Herz, dass mittlerweile nach Erlösung schrie.
Mit einem tiefen, fast schmerzhaften Seufzer legte sie Geld für den Kaffee auf den Tisch und zog ihren Mantel fester um sich. Sie erhob sich und rief ihn stumm mit ihrem Blick. Er schien sie zu hören, nahm ihren Blick auf und legte in seinen hinein, was sie am liebsten in den letzten Wochen von ihm gehört hätte. Sie wusste, dass er es nicht konnte und ihr die Kraft fehlte, darauf zu warten. Als sie das Café verließ, trat sie hinaus in den kalten Herbstregen, der sofort ihre Wangen benetzte und sich mit den Tränen vermischte, denen sie nun freien Lauf ließ.
Der Regen verschwamm vor ihren Augen zu einem grauen Schleier, und mit jedem Schritt, der sie weiter von ihm und dem Café wegführte, fühlte sie, wie ein Teil von ihr zurückblieb. Ein Teil, der immer noch hoffte und sich sehnte. Doch heute war der Tag, an dem sie sich endlich eingestehen musste, dass einige Verbindungen, so tief sie auch sein mögen, manchmal einseitig bleiben. Und mit einem letzten Blick zurück, schweren Herzens, aber mit einer seltsamen Art von Befreiung, ließ sie ihn und die unerfüllte Nähe hinter sich.